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Analyse: Gelingt Labour unter Jeremy Corbyn die Sensation?

Unmittelbar vor der Parlamentswahl in Großbritannien trennen Labour und die regierenden Tories nur noch wenige Prozentpunkte. Selbst ein Sieg des umstrittenen Jeremy Corbyn ist nicht mehr ausgeschlossen.
von Ulrich Storck · 7. Juni 2017
Den Nimbus der Lichtgestalt verloren: Labour-Chef Jeremy Corbyn stellt seine Partei vor eine Zerreißprobe.
Den Nimbus der Lichtgestalt verloren: Labour-Chef Jeremy Corbyn stellt seine Partei vor eine Zerreißprobe.

So war das sicher nicht gedacht: Als Theresa May am 18. April vorgezogene Neuwahlen ausrief, war sie sich ihres Sieges gewiss. Zwar begründete sie ihren Schritt mit der Notwendigkeit eines geeint hinter ihr stehenden Unterhauses zum bevorstehenden Kampf um den Brexit-Deal. In Wahrheit war ihre Entscheidung eher ihrem Popularitätshoch und dem weit über 20-prozentigem Vorsprung zum politischen Gegner geschuldet. Hinzu gesellte sich die Einsicht, dass ein günstigerer Moment so bald nicht wiederkehren dürfte.

Labour und die Aufholjagd auf die Tories

Labour mit dem Spitzenkandidaten Jeremy Corbyn war so weit abgeschlagen, dass Letzterer nicht einmal als Wahlkampf-Gegner taugte. May konzentrierte ihre Kampagne auf ihre persönliche Führungsstärke und ihre Kompromisslosigkeit in den Brexit-Verhandlungen. Als Gegner nahm sie die Brüsseler Entscheidungsträger ins Visier. Ihr Diskurs drehte sich nochmals mehr in Richtung eines ‚harten Brexits‘- inzwischen so deckungsgleich mit dem der UKIP, dass deren Wähler laut Prognosen komplett zu den Konservativen überlaufen werden.

Nachdem Labour lange chancenlos abgeschlagen schien, wendete sich das Blatt Mitte Mai mit der Vorstellung der Wahlprogramme. Die Tories unter May verordneten sich eine harte konservative Linie, stehen für weitere Einschnitte in der Sozialpolitik, insbesondere sozial Schwache wie Pflegebedürftige werden weiter benachteiligt. Dass die Partei im Wahlkampf Steuererhöhungen für ihre Kern-Zielgruppen verkündete zeigte, wie siegessicher May sich damals noch fühlte.

Corbyn begeistert junge Wähler

Labour dagegen lockte die relevanten Wählergruppen gezielt mit populären Versprechen: Abschaffung der Studiengebühren für die Jungwähler und einen bildungs-und gesundheitspolitischen Investitionsschub, finanziert durch ein gerechteres Steuersystem, das den Spitzenverdienern und Großunternehmen mehr abverlangt. Obwohl viele Programmpunkte - wie die Verstaatlichung von Post und Bahn oder die hohen Sozialausgaben - ohne nachvollziehbare Gegenfinanzierung von Konkurrenz und Medien als „alt-linke Luftschlösser“ abgetan wurden, zeigt sich, dass in Großbritannien linkspopulistische Ideen durchaus Zulauf finden. Insbesondere junge Wähler scheint das linke Labour-Programm und die Aussicht auf einen wahren Politikwechsel, verkörpert durch den Anti-Establishment Politiker Jeremy Corbyn, zu begeistern.

Seit einer Woche wird nicht nur ein Kopf-an-Kopf Rennen prognostiziert, sondern gar die Möglichkeit, dass die Tories Sitze einbüßen und ihre absolute Mehrheit verlieren könnten. Entscheidend für die unerwartete Wende im Wahlkampf sind in erster Linie die Fehler der Tories. Ihre zentralen Argumente bauten sie um eine starke Premierministerin – welche zunehmend autoritär wirkt – und vernachlässigten dabei die politischen Positionen der Partei. Kehrtwendungen bei inhaltlicher Kritik am Programm und das Nichterscheinen bei TV-Debatten wurden May als Schwäche und Arroganz vorgeworfen. Corbyn dagegen führte seinen Wahlkampf stetig mit unverrückbaren linken Positionen, konzentrierte sich von Anfang an auf die bürgernahen Themen der Sozialpolitik und suchte sein Image als mutig andersdenkender, stets authentischer Politiker zu untermauern.

Labour setzt auf junge und arme Wähler

Die Umfragen weisen bis zuletzt eine breite Streuung auf: bei einigen Instituten führen die Tories noch immer mit sicheren 15 Prozent, bei anderen hat Labour mit nur noch einem Prozentpunkt Abstand fast gleichgezogen. Alle Demoskopen geben ihre Unsicherheit offen zu, viele testen neue Modelle nach den misslungenen Prognosen vor den Urnengängen der beiden letzten Jahre. Entscheidender Faktor ist, wie präzise die Wahlbeteiligung eingerechnet werden kann. Je mehr junge und ärmere Wähler ihre Stimme abgeben, umso besser fallen die Ergebnisse für Labour aus. Die Beteiligung genau dieser Gruppen ist allerdings traditionell niedrig. Die Corbyn-Kampagne gibt sich zuversichtlich, dass sie mit ihrer nahezu verdreifachten Mitgliederbasis dieses Mal ausreichend Jungwähler mobilisieren wird.

Dennoch glaubt niemand im politischen London ernsthaft daran, dass Labour die Wahl gewinnt und Corbyn der nächste Premier wird. Von zentraler Bedeutung für die Zukunft der Partei und ihres Vorsitzenden wird sein, wie genau das Ergebnis ausfällt. Bei einem Wahlsieg der Tories wäre es für Corbyn parteiintern ein großer Erfolg, wenn er über den Ergebnissen seines Vorgängers Ed Miliband läge. In einem solchen Fall würde Corbyn seinen Platz an der Parteispitze wohl kaum räumen.

Autor*in
Ulrich Storck

leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Athen.

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