Aleppo, ein Ausschnitt der syrischen Tragödie
„Nur noch 23 Ärzte arbeiten in Aleppo. Stell Dir vor, nur noch 23 für über 200.000 Menschen, die die Stadt nicht verlassen können!“ Der Mann, der mir das erzählt, ist verzweifelt. Verzweifelt über die aussichtlose Lage in seiner Stadt Aleppo, verzweifelt aber auch über sich selbst. Schuldgefühle sind ihm ins Gesicht geschrieben: „Dabei gibt es doch jeden Tag bis zu 100 Verletzte und über 15 Tote. Jeden Tag. Die meisten durch Fassbomben, aber auch Granaten oder Scharfschützen natürlich!“ Er hat Tränen in den Augen, als er dies mit leiser Stimme erzählt. Dann kommt es wie ein Geständnis: „Und ich habe Aleppo verlassen und lebe hier in einem Paradies des Friedens.“ Es klingt, als klage er sich selber an.
Aleppo, ein Beispiel für die Trägodie in Syrien
Wir sitzen im Foyer der Kassenärztlichen Vereinigung in Dortmund. In bequemen Ledersesseln. Hinter hohen Glasscheiben. Draußen regnet es in Strömen. Ein grauer Tag in der Ruhrstadt. Gleich wird er vor deutschen und syrischen Ärzten reden und mit ihnen überlegen, wie diesem aus allen Adern blutenden Land noch geholfen werden kann. Bis vor zwei Monaten hatte er, Dr. Ammar Zakaria, noch selber in Aleppo operiert, amputiert und das Gesundheitssystem in der belagerten Stadt organisiert.
Er hat versucht Menschenleben zu retten, und er hat Menschen sterben sehen. „Wir hatten kaum noch Verbandsmaterial, wir haben nur noch vier Feldlazarette betreiben können von einst zehn.“ Dabei ist Aleppo nur ein kleiner Ausschnitt in der syrischen Tragödie. Mehr als eine Million Menschen sollen laut der Organisation Handicap International bisher verletzt worden sein, darunter zehntausende, die Gliedmaßen verloren haben. Dr. Zakaria spricht später in seinem Vortrag sogar von 1,6 Millionen Verletzen und von 60.000 verkrüppelten Syrern.
Das Leben anderer retten, oder die eigene Familie
Drei Jahre lang hatte er in Aleppo sein Leben riskiert, damit wenigstens einige der vielen Schwerverletzten weiterleben können. Seine damals in der Türkei lebende Frau, die in Dortmund neben ihm sitzt, hatte jeden Tag tausend Ängste um ihn ausgestanden, besonders wenn wieder Luftangriffe auf Aleppo gemeldet wurden und sie nichts von ihm gehört hatte. Sie war es, die ihn immer wieder gedrängt hatte, die umkämpfte Stadt zu verlassen und nach Europa zu gehen. „Ich habe ihm ständig gesagt, es hat doch keinen Wert. Wir können nicht mehr gewinnen. Denk doch an Deine Tochter.“
Seine Antwort war drei Jahre lang: „Die Menschen in Aleppo brauchen mich.“ Im vergangenen Dezember, endlich, erklärte er sich bereit nach Deutschland zu gehen. Mit Frau und Tochter, mit Eltern und dem kleinen Bruder. Am Ende aufatmen? Wohl kaum. Er bleibt dabei: „Ich fühle mich schuldig. Ich habe meine Kollegen in Aleppo im Stich gelassen. Sie sind meine Brüder.“
Aleppo ist am Ende
Er weiß genau, dass diese nordsyrische Stadt militärisch kaum noch zu halten ist: „Die Assad-Truppen sind dabei sie einzukesseln. Es gibt nur noch einen neun Kilometer breiten Korridor, durch den manchmal Nachschub kommt. Munition für die Kämpfer, Lebensmittel von der Uno für die Bevölkerung.“ Für ihn ist es eine Frage der Zeit, bis die Armee Assads die Falle zuschnappen lässt. Wer jetzt noch in Aleppo lebt, läuft Gefahr, nicht mehr rauszukommen. Den Fassbomben sind die Menschen ohnehin schon lange schutzlos ausgeliefert. Diese improvisierten Splitterbomben werden oft von isolierten Regimen eingesetzt, weil sie einfach zu bauen sind aus handelsüblichen Materialien wie Heizkesseln und Düngemitteln. Aber da ein zielgenauer Einsatz unmöglich ist, verstoßen sie wohl gegen das Kriegsrecht. Gelegentlich sind Assads Fassbomben laut Zakaria sogar mit Chlorgas gefüllt.
Keine Aussicht auf Waffenruhe
Bei der Suche der Uno nach einem Waffenstillstand in Syrien spielt Aleppo eine zentrale Rolle. Lange hatte der Syrien-Sondergesandte der Uno, Staffan de Mistura, gehofft, die Stadt sogar zu einer Art Modell für einen Waffenstillstand machen zu können. Statt von einer Waffenruhe sprach er vom Einfrieren des Kriegs, gewissermaßen als dem kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich die Konfliktparteien gerade noch einigen können.
Doch selbst dieses Minimalprogramm konnte nicht umgesetzt werden. Die Rebellenmilizen fürchten, Assad könne die Zeit zur Aufrüstung nutzen. Und Assad verlangt, dass er die Oberherrschaft über das „eingefrorene“ Gebiet zurückerhalte, was die Rebellen natürlich strikt ablehnen.
Unklares Verhältnis zwischen USA und Assad-Regime
Ohnehin begegnen die meisten Rebellenmilizen solchen Denkübungen, vielleicht mit Assad zu verhandeln, mit tiefem Misstrauen, sogar mit dem Verdacht, die USA machten gemeinsame Sache mit dem syrischen Regime. Genährt wird dieses Misstrauen durch folgende Umstände: die Anti-IS-Allianz unter US-amerikanischer Führung bombardiert Einrichtungen des sogenannten Islamischen Staates, während Assad zeitgleich seine Bevölkerung und Rebellenmilizen mit Fassbomben terrorisiert, und dies in Sichtweite der Radaraugen US-amerikanischer Flugzeuge, ohne dass diese eingreifen.
Außerdem greifen US-amerikanische Kampfflugzeuge immer wieder solche Rebellenmilizen an, die sicherlich zum Härtesten gehören, was die Djihadisten-Szene in Syrien zu bieten hat, aber die sich eben nicht dem IS untergeordnet haben. Kein Wunder also, dass extremistische Rebellengruppen, aber auch zunehmend gemäßigte Oppositionelle von einer geheimen Allianz zwischen Assad und den USA phantasieren.
Verhandeln mit Assad ist „Bullshit!“
Auch deswegen reagierten die meisten Oppositionsgruppen empört auf die Äußerungen des US-amerikanischen und des deutschen Außenministers, sich Gespräche mit Assad oder Mitgliedern seines Regimes vorstellen zu können. Die Mehrheitsmeinung: Mit Assad dürfe niemand reden, er sei schließlich ein Kriegsverbrecher.
Auch bei der Syrien-Konferenz in Dortmund gab es nur ein Wort für die Gesprächsidee: „Bullshit!“ Erst Assad besiegen, dann sei der IS dran, in dieser Reihenfolge müsse der syrische Krieg beendet werden. Ob dazu die zersplitterten Rebellenmilizen überhaupt noch in der Lage sind, war allerdings kein Thema.