Adam Tooze: „Uns droht eine Prekarisierung weiter Teile Europas.“
Dirk Bleicker; dirkbleicker.de
Adam Tooze, können Sie das Wort „Krise“ noch hören?
Sicher, der Begriff ist etwas abgegriffen, aber Krise ist nun mal der Zustand, in dem wir gerade leben. Das Problem ist, dass wir erwarten, dass der krisenhafte Zustand irgendwann auch wieder vorbei sein muss. Das ist aber nicht der Fall. Stattdessen beginnt meistens eine neue Krise noch bevor die vorangegangene vorbei ist.
Was bedeutet das für die Gesellschaft?
Dieser Frage widme ich gerade sehr viel Zeit und ich muss sagen: Ich weiß es nicht. Es gibt viele Möglichkeiten. Natürlich kann es sein, dass etwas Neues nach der Krise kommt, aber eine Garantie dafür gibt es nicht. Letztlich ist es eine kulturell-ästhetische Frage, ob sich die Spannung, die in der Luft liegt, überhaupt löst oder ob es einfach immer weitergeht. Vielleicht ist die Welt einfach so, dass sie immer lauter und verrückter wird.
Welchen Einfluss hat dieser Zustand der Dauer-Krise auf die Menschen?
Die psychologischen Auswirkungen sind enorm. Das sehen wir ja sehr deutlich in der Corona-Pandemie. Die mentalen Schäden, die die Menschen weltweit millionenfach davongetragen haben, sind eine Hinterlassenschaft, an der wir noch lange zu knabbern haben werden. Im Vergleich zu dem, was jetzt mit den Folgen des Kriegs in der Ukraine auf uns zukommt, kann das aber sogar nur ein laues Lüftchen gewesen sein. Uns droht eine Prekarisierung weiter Teile Europas.
Wie sollten Gesellschaft und Politik damit umgehen?
Wichtigstes Ziel muss natürlich die Schadensminimierung sein wie etwa beim Klimawandel. Angesicht der umfassenden Destabilisierung, die bereits stattgefunden hat, müssen wir aber auch über Anpassungsstrategien und Möglichkeiten der Eindämmung der Krise nachdenken. Auf Grundlage der ökonomischen Datenbasis lässt sich recht genau vorhersagen, was wirtschaftlich in den unterschiedlichen Regionen der Welt passiert. Das ist bei politischen Entwicklungen deutlich schwieriger, weil es vom Politikstil einzelner Persönlichkeiten abhängt. Wer hätte erwartet, dass Großbritannien nach sechs Wochen schon wieder einen neuen Premierminister bekommt?
Welche Folgen haben diese miteinander verwobenen Krisen für die Demokratie?
Auch das muss sich noch zeigen. Generell haben Demokratien größere Probleme mit Krisen umzugehen als Autokratien, weil sie Interessen ausgleichen müssen. In China können einfach Millionen Menschen eingesperrt werden, um gegen das Corona-Virus vorzugehen. Das wäre in Europa undenkbar. Hier ist der Druck der Energiepreiskrise mittlerweile enorm. Das ist aber vor allem ein europäisches Phänomen. In den USA zum Beispiel gibt es diese Krise nicht. Dort betreibt man sehr konventionelle anti-inflationäre Politik. Das ist für Europa aber kein gangbarer Weg.
Warum nicht?
Weil die Problemlage hier deutlich komplexer ist, u.a. weil es hier große sozialstaatliche Versprechen gibt, die während der Corona-Krise sogar noch erneuert und erweitert wurden. Damit gibt es nun eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten, aber eben auch Verpflichtungen. Die Maßnahmen gegen die steigenden Preise müssen deshalb gut überlegt sein und ebenso gut umgesetzt werden, also nicht wie bei der Gasumlage in Deutschland.
Den einen Weg, auf diese Krise zu reagieren, gibt es also nicht?
Nein, es gibt höchstens Anhaltspunkte, was sinnvoll ist und was nicht. Wir wissen etwa, dass es nicht sehr sinnvoll ist, für die Gesamtsumme des Gasverbrauchs einen Preis festzulegen, also den Gaspreis zu deckeln, weil damit Anreize zum Sparen genommen werden. Wenn man aber nur einen Teil des Preises deckelt, bedeutet das furchtbare administrative Arbeit. Und wenn man nur bestimmte Bürger entlasten möchte, ist es schwierig, die Grenze zu ziehen. Einen Königsweg gibt es also nicht.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.