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Zwischen Dammbruch und Tiefpunkt: So reagiert die SPD auf Thüringen

Das Entsetzen nach der Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen ist groß. Nachdem FDP-Kandidat Thomas Kemmerich mit den Stimmen von AfD und CDU gewählt wurde, hagelt es vor allem Kritik für das Verhalten von Union und Liberalen. Die SPD-Spitze spricht von einem „unverzeihlichen Dammbruch“ und einem „Tiefpunkt der Nachkriegsgeschichte“.
von Benedikt Dittrich · 5. Februar 2020
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„Die Geschehnisse in Thüringen sind ein unverzeihlicher Dammbruch“, sagte SPD-Parteivorsitzender Norbert Walter-Borjans in einer ersten Reaktion auf die Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen, „ausgelöst von CDU und FDP.“ Es sei ein Skandal erster Güte, vor dem sich niemand in den Berliner Parteizentralen davonschleichen könne. Für Lars Klingbeil ist der Tag, an dem sich ein Ministerpräsident mit den Stimmen der AfD an die Macht wählen lässt „ein Tiefpunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht nur für Thüringen, sondern für ganz Deutschland“. Aus Sicht des SPD-Generalsekretärs lässt sich „die FDP von der AfD, die mit Höcke einen waschechten Faschisten in den eigenen Reihen hat, an die Macht wählen“. Obendrein spiele die CDU das gefährliche Spiel ohne Skrupel einfach mit, zeigte sich der Sozialdemokrat schockiert von den Vorgängen in Thüringen.

Parteivorsitzende Saskia Esken kündigte indes an, die Wahl auch zum Thema im Koalitionsausschuss zu machen: „Diese MP-Wahl war ein abgekartetes Spiel und muss korrigiert werden!“, wetterte sie auf Twitter in Richtung CDU und FDP. „Dafür tragen auch die Bundesparteien und ihre Vorsitzenden klar Verantwortung.“ Die SPD habe dringende Fragen an die CDU so Esken, die zügig im Koalitionsausschuss geklärt würden.

Für SPD-Bundestagsvize Achim Post ist der Vorgang in Thüringen ebenso ein Tabubruch mit bundespolitischer Reichweite: „Wer offen oder verdeckt mit der rechtsradikalen Höcke-AfD kooperiert, trägt die Verantwortung für einen der größten politischen Tabubrüche in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“, erklärte er gegenüber dem „vorwärts“.

Der Juso-Vorsitzende in Thüringen, Oleg Shevchenko war nach der Wahl vollkommen fassungsls: „Die Folgen für Thüringen sind nicht abzusehen.“ Er mache sich ernste Sorgen um die Minderheiten in dem Bundesland, erklärte er im Gespräch mit dem „vorwärts“. Außerdem sieht er die progressiven Veränderungen, die mit Rot-Rot-Grün erreicht wurden, in Gefahr. „Die SPD sollte unbedingt bei ihrer klaren Position bleiben, nicht für eine Regierung unter Thomas Kemmerich zur Verfügung zu stehen“, appellierte er an seine Genoss*innen.

Dass dieses Verhalten sich schon angebahnt hatte, betonte der stellvertretende SPD-Parteivorsitzende Kevin Kühnert: Er hatte schon prophetisch am Vormittag den Tabubruch vorhergesehen, aus seiner Befürchtung wurde dann gegen 13.30 Uhr Gewissheit. „Der Tabubruch, der AfD zu echter Macht verholfen zu haben, wird nun für immer mit CDU und FDP verbunden sein“, kritisierte Kühnert. „Die Masken sind gefallen.“ Ähnlich äußerte sich auch SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil: „Jeder anständige Liberale sollte sich schämen.“

Auch andere Kommentator*innen hatten befürchtet, dass die CDU mit ihrer Haltung, den Linken Spitzenkandidat Bodo Ramelow nicht wählen zu wollen, am Ende gemeinsam mit der AfD stimmen würde.  Mit der Wahl des Liberalen Thomas Kemmerich wurde diese Befürchtung im dritten Wahlgang Realität. Kemmerich wurde mit einer Stimme Vorsprung gewählt – als Kandidat einer Partei, die bei den vorausgegangenen Landtagswahlen nur mit Ach und Krach überhaupt ins Parlament gewählt worden war. Der AfD-Kandidat ging im dritten Wahlgang komplett leer aus. Ein Vorgang der offenbar vorab abgesprochen war.

„Diese geheime Absprache ist ein Skandal“

Wolfgang Tiefensee, SPD-Landesvorsitzender in Thüringen, hatte schon vorab angekündigt, dass die Sozialdemokraten weder im Parlament noch in der Regierung einen Ministerpräsidenten von Gnaden der AfD unterstützen würden. Martin Dulig sprach in einer Reaktion nach der Wahl ebenfalls von einem „Skandal mit Ansage“. Der Abgrenzungskurs von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sei damit gescheitert. „Ein Teil von CDU und FDP haben damit die bürgerliche Mitte verlassen. Sie haben ihre Seele verkauft, um an die Macht zu kommen“, formuliert der sächsische SPD-Vorsitzende in drastischen Worten. Starker Gegenwind kam auch aus Mecklenburg-Vorpommern. SPD-Ministerpräsidentin Manuela Schwesig sprach unisono von einem absoluten Tabubruch: „Es geht gar nicht, dass hier erstmals ein Ministerpräsident mit den Stimmen der AfD gewählt worden ist.“ FDP und CDU in Thüringen hätten der Demokratie einen schweren Schaden zugefügt.

Carsten Schneider, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion und Abgeordneter aus Erfurt, sprach von einem Pakt mit der Höcke-AfD, CDU und FDP hätten zugelassen, dass die AfD zum Steigbügelhalter wird: „Diese geheime Absprache ist ein Skandal.“ Noch deutlicher wird Fraktionsvorsitzender Rolf Mützenich: „CDU und FDP haben den Nazi Björn Höcke und dessen thüringische AfD zum Zünglein an der Waage gemacht.“ Mit Antidemokraten mache man keine gemeinsame Sache, so Mützenich, der von Union und Liberalen auf Bundesebene eine Korrektur der Entscheidung in Thüringen forderte.

 

Ein Skandal, der auch außerhalb der Sozialdemokraten nicht unkommentiert blieb: Journalist Georg Restle, Redaktionsleiter des Polit-Magazins „Monitor“, ordnete die Wahl in einen historischen Kontext ein: „Nichts gelernt: 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, 75 Jahre nach dem Ende von Faschismus und nationalsozialistischer Schreckensherrschaft: „Bürgerliche“ Parteien paktieren in Thüringen wieder offen mit Rechtsextremisten.“

SPD-Schatzmeister Dietmar Nietan verwies gegenüber dem „vorwärts“ ebenfalls auf die unrühmliche deutsche Vergangenheit: „Die Bürgerlichen Parteien haben schon 1933 gezeigt, dass man sich auf sie beim Kampf gegen den Faschismus nicht verlassen kann.“ Er fordert ebenfalls Konsequenzen von den Parteispitzen: „Wenn Herr Lindner und Frau Kramp-Karrenbauer der heute in Thüringen von ihren Parlamentsfraktionen begangenen Ungeheuerlichkeit nicht umgehend durch konsequentes Handeln den Boden einziehen, machen sie sich und ihre Parteien zum Büttel der Rechtsradikalen.“ Herr Kemmerich dürfe nicht Ministerpräsident in Thüringen bleiben.

Kritik gibt es auch innerhalb der FDP: Der frühere Bundesinnenminister Gerhard Baum sprach gegenüber der „Rheinischen Post“ von eine „Hauch von Weimar“. Dass die Wahl seines Parteikollegen Thomas Kemmerichs mit den Stimmen der AfD zustande gekommen sei, sei für ihn ein Schock, so der Düsseldorfer weiter. „Damit bekommt die AfD jetzt zum ersten Mal jedenfalls indirekt Regierungsverantwortung“, sagte er. „Das Böse ist wieder da.“ Auch Sabine Leutheuser-Schnarrenberger, ehemalige FDP-Justizministerin forderte ein Ende des Spuks in Thüringen „bevor er zum Albtraum wird.“

Kristina Meyer und Bernd Rother vom Geschichtsforum der SPD zeigen die erschreckenden historischen Parallelen noch einmal im Detail auf: „Am 23. Januar 1930 verhalfen Parteien, die sich selbst als bürgerlich bezeichneten, der NSDAP in Thüringen zur ersten Regierungsbeteiligung auf Landesebene: Aus dem „Experimentierfeld“ (A. Hitler) wurde bald der „Mustergau“ Thüringen – ein Vorzeigeprojekt des Nationalsozialismus“, warnen die Historiker*innen in einer gemeinsamen Stellungnahme. „Heute, fast auf den Tag 90 Jahre später, haben FDP und CDU keine Hemmungen gezeigt, als es darum ging, gemeinsam mit der vom völkischen „Flügel“ dominierten Thüringer AfD einen linken Ministerpräsidenten zu stürzen und stattdessen einen Politiker in dieses Amt zu hieven, dessen Partei gerade einmal fünf Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen konnte. Wer immer noch glaubt, dass die AfD keine Gefahr für unseren demokratischen Rechtsstaat darstellt und es ihr nicht gelingen wird, in die „bürgerliche“ Mitte der Gesellschaft vorzudringen, sollte am heutigen Tag eines Besseren belehrt worden sein.“

Wolfgang Thierse spricht von „Sündenfall“

Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse fordert ein Eingreifen der Bundesparteien: „Das ist der Sündenfall von FDP und CDU. Wenn die Vorsitzenden dieser beiden Parteien nicht eingreifen sondern mitspielen, strafen sie ihre eigenen Beteuerungen Lüge. “ Damit sei der Weg geebnet worden für eine faktische Zusammenarbeit mit der Höcke-AfD, so der Sozialdemokrat weiter. Der Ex-SPD-Vorsitzende Siegmar Gabriel glaubt von einer Absprache auf Bundesebene: „Wer glaubt, dass FDP und CDU nichts davon gewusst haben, dass die AfD ihren FDP-Kandidaten zum Ministerpräsidenten in Thüringen wählt, glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.“ Es sei ein “abgezocktes Spiel“, dass die Demokratie der Lächerlichkeit preisgibt.“

Wie es nun mit der Regierungsbildung in dem Bundesland weitergeht, ist bislang noch unklar. Auf Bundesebene reagierte als erster CDU-Politiker der Generalsekretär der Partei, Paul Ziemiak – und distanzierte sich von dem vorläufigen Ergebnis in Thüringen. „Diese Entscheidung von heute spaltet unser ganzes Land.“ Er zeigte sich bestürzt darüber, dass auch CDU-Abgeordnete diesen Kurs mitgetragen haben und mit Stimmen von Nazis wie Björn Höcke den FDP-Kandidaten ins Amt gehoben haben: „Diese Wahl mit den Stimmen der AfD ist keine Grundlage für eine stabile Regierung und sie ist auch keine Grundlage für bürgerliche Politik.“ Das beste für Thüringen, so Ziemiak am Ende seines Statements, wären Neuwahlen.

SPD-Parteivize Serpil Midyatli blickt indes schon auf die Wahl in Hamburg im Februar: „Die Wählerinnen und Wähler in Hamburg sollten sich die aktuelle Entwicklung genau anschauen. Die SPD steht zu ihrer Verantwortung und wird niemals und nirgendwo mit der AfD zusammenarbeiten.“ Zur Wahl von Thomas Kemmerich hat sie ebenfalls eine klare Haltung, wie sie auf Facebook erklärte: „Das ist Verrat an den Wählerinnen und Wählern und führt dazu, dass sich Menschen von der Politik abwenden.“

Im November 2019 hatte Kemmerich selbst noch eine „wie auch immer geartete Zusammenarbeit“ mit der AfD ausgeschlossen.

Kommentar von „vorwärts“-Redakteur Jonas Jordan zur Wahl von Thomas Kemmerich: „Ministerpräsidentenwahl in Thüringen: Perfides Spiel der CDU“

Autor*in
Benedikt Dittrich

war von 2019 bis Oktober 2022 Redakteur des „vorwärts“.

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