Die Polizei tappte jahrelang im Dunkeln. Für die Angehörigen der Mordopfer eine Tortur, zumal sie zu den Verdächtigen gehörten. Dabei war die heiße Spur so nah: zwei Männer in Radlerhosen. Doch das erkannte damals niemand. Die Beweisaufnahme zu zwei Morden stand in dieser Woche im Mittelpunkt des NSU-Prozesses in München.
Rückblickend sieht alles so klar aus. Bei den Morden an Enver Şimşek im Jahr 2000 in Nürnberg und Habil Kılıç 2001 in München wurden von Zeugen jeweils zwei sportliche, hochgewachsene Männer in Radlerhosen gesehen. Nach Ansicht der Bundesanwaltschaft waren das Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die von den Tatorten flohen, nachdem sie ihre arg- und wehrlosen Opfer kaltblütig erschossen hatten.
Mord an Enver Şimşek
Doch damals sahen die beiden Fälle für die Ermittler überhaupt nicht klar aus. Der Blumenhändler Enver Şimşek hatte am 9. September 2000, einem Samstag, seinen Blumenstand am Rand der Liegnitzer Straße in Nürnberg aufgebaut. Seinen weißen Lieferwagen hatte er dahinter abgestellt. Dort ordnete der 39-Jährige wohl gegen 12.45 Uhr Sträuße, als insgesamt neun Mal auf ihn geschossen wurde. Ein Schuss ging daneben, die anderen trafen den Mann in den Kopf, den Oberkörper und einen Arm. Zum ersten Mal wurde die Ceská 83 mit Schalldämpfer verwendet, die in acht weiteren Fällen die Tatwaffe war.
Enver Şimşek lebte noch, als die Täter ihn blutüberströmt zwischen den Blumen fotografierten und flüchteten. Das Foto tauchte viel später in einem Bekennervideo des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) auf. Şimşek erlag zwei Tage nach der Tat seinen schweren Verletzungen. Das erste von zehn Opfern der NSU-Terroristen.
Ein Zeuge fuhr damals mit seinem Lieferwagen am Tatort vorbei. Er hörte drei, vier harte, „metallische Schläge“ und sah unwillkürlich in die Richtung. Dort erblickte er kurz zwei Männer in Radlerhosen, die sich vom Auto des Blumenhändlers wegbewegten. Einer von vielen Hinweisen, die die Ermittler damals auswerteten, aber zu keiner heißen Spur führten.
Mord an Habil Kılıç
Der andere Mord, zu dem in der in der achten Verhandlungswoche Zeugen gehört wurden, war Mord Nummer vier, der dem NSU-Trio zur Last gelegt wird. Der Lebensmittelhändler Habil Kılıç stand am Morgen des 29. August 2001, einem Mittwoch, in seinem Laden hinter der Theke, als ihn zwei Kugeln aus einer Ceská 83 ins Gesicht und in den Hinterkopf trafen. Blutüberströmt brach der 38-Jährige zusammen. Gegen 10.40 Uhr wurde er von einer Kundin gefunden. Er starb kurz darauf.
Diesmal wurden zwei junge Männer in Radlerhosen von zwei Zeuginnen gesehen. Gesichter konnten sie jedoch nicht erkennen. Die Polizei fahndete nach ihnen als Zeugen des Verbrechens, ohne Erfolg. Heute wisse er, dass dies wahrscheinlich Böhnhardt und Mundlos gewesen seien, sagte ein als Zeuge vernommener Kriminalbeamter. Doch auch im Fall Kılıç sei dies nur eine von vielen Spuren gewesen.
Ermittlungen in alle Richtungen
Die Polizei habe in alle Richtungen ermittelt, wie der Kriminalbeamte immer wieder betonte. Hinweise auf einen rechtsradikalen Hintergrund habe es jedoch nicht gegeben, dafür aber immer wieder Spuren, die in Richtung organisierte Kriminalität, Mafia, Drogenhandel und Prostitution führten. Allerdings wurde in beiden Fällen nichts Belastendes in dieser Richtung gefunden. Habil Kılıç und Enver Şimşek waren brave, unbescholtene Menschen ohne kriminellen Hintergrund.
Erschütternde Aussagen der Angehörigen
Wie schlimm die Situation für die Angehörigen der Opfer waren, zeigt auch der erschütternde Bericht von Semiya Şimşek, Tochter von Enver Şimşek, in ihrem Buch "Schmerzliche Heimat". Sie beschreibt darin, wie die Polizei ihre Mutter jahrelang immer wieder massiv unter Druck setzte, um neue Ermittlungsansätze zu finden. Dabei sei es um Mafiakontakte, Drogentransporte, andere Frauen, eine zweite heimliche Ehe gegangen. Nichts davon habe gestimmt. Unter den Verdächtigungen, die auch in der Presse thematisiert wurden, habe die ganze Familie gelitten.
Pina Kılıç, Witwe von Habil Kılıç, erging es ähnlich. Sie wirkte vor Gericht - auch zwölf Jahre nach dem Verbrechen - noch schwer traumatisiert. Bis heute sei sie in ärztlicher Behandlung. Sie berichtete nur stockend, dass sie damals alles verloren habe, ihren Mann, der ein „sehr guter Mensch“ gewesen sei, das Geschäft und die Wohnung. Auch habe sie viele Freunde verloren, weil sie jahrelang verdächtigt worden sei. Ihr ganzes Schicksal habe sich durch den Mord geändert.
Warum das Gericht das alles wissen wolle, fragte Pina Kılıç Richter Manfred Götzl. Ob ihr Schicksal wichtiger sei, als das „dieser Frau“ da?“ Dabei deutete sie auf die Angeklagte Beate Zschäpe. Die blieb jedoch wie üblich ungerührt und starrte auf den Bildschirm ihres Laptops.
Anmerkung: In der ursprünglichen Version dieses Artikels wurde der Bericht von Semiya Şimşek fälschlicherweise als Aussage vor Gericht bezeichnet. Dies ist ein Fehler, für den wir uns entschuldigen.