„Young Carers“: Wenn Kinder ihre Eltern pflegen müssen
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In Deutschland leben 2,5 Millionen pflegebedürftige Menschen, 1,8 Millionen davon werden ausschließlich von ihren Angehörigen versorgt. Braucht ein Elternteil Pflege, hat das weitreichende Auswirkungen auf das Zusammenleben und damit auch auf das Leben der Angehörigen. Wenn Eltern durch chronische physische, psychische, oder akute Erkrankungen auf die Unterstützung ihrer Kinder im jungen Alter angewiesen sind, liegt oftmals ein Fall von „Parentifizierung“ vor.
In jeder Schulklasse eine*r
Aus einer Studie der Professorin Sabine Metzing, die auf einer Erhebung von Schüler*innen in Nordrhein-Westfalen zwischen 10 und 22 Jahren basiert, wird deutlich, dass in jeder Schulklasse mindestens ein*e Jugendliche*r ist, die*der sich um die Fürsorge von Angehörigen kümmert. Junge Pflegende („Young Carers“), die diese „Mammutaufgabe“ leisten, bleiben oftmals unsichtbar. Sie sorgen sich darum, dass der Alltag zu Hause läuft, unterstützen im Haushalt, kochen, gehen einkaufen, helfen bei der Körperpflege und beim Mobilisieren, bedienen medizinische Geräte, kümmern sich um die Finanzen sowie die Geschwister und stehen als Seelentröster*innen bereit. Nebenbei sollen sie in der Schule gute Leistungen bringen, um im Leben etwas aus sich zu machen.
Kinder und Jugendliche, die pflegen und gleichzeitig ihr eigenes Leben meistern, vollbringen die Quadratur des Kreises. Sie wenden ungeahnte Kräfte auf, sind fürsorglich, organisiert, fleißig, einfühlsam – auch, um sensibel für die aktuelle Stimmungslage der Eltern zu sein. Sie funktionieren ohne zu hinterfragen, sie machen es aus Liebe und aus Gewohnheit, weil sie die einzigen sind, die helfen können, weil kein*e andere*r weiß, was sich zu Hause abspielt. Sie tragen ungeahnte Lasten und stellen nach außen die „heile Familienwelt“ dar. Es ist ihre Überlebensstrategie, sie macht sie zu starken und beeindruckenden Menschen.
Erschöpfung durch Pflege
Dabei geraten ihre Bedürfnisse nach Fürsorge, Aufmerksamkeit, Liebe und Leichtigkeit der Kindheit in den Hintergrund. Durch die Aufopferung zu Hause vernachlässigen sie ihre eigenen Bedürfnisse. Es kann entsprechend zu einem Leistungsabfall in der Schule kommen oder Erschöpfungsleiden entstehen, die sich in Depressionen oder Angstzuständen ausdrücken können. Da die jungen Pflegenden schon im frühen Alter gelernt haben, zu funktionieren, können Außenstehende nicht sehen, wie es den Kindern und Jugendlichen wirklich geht. Hinzu kommen die Angst und die Scham davor, über die Situation zu Hause zu sprechen: „Was könnten die anderen von einem denken, wenn die wüssten, dass Mama oder Papa „anders im Kopf sind“ oder eine schwere körperliche Erkrankung haben? Wie erklärt man als junges Kind, welches schon mit 7 oder 8 Jahren sein eigenes Pausenbrot schmieren muss, dass es zuhause chaotisch ist und man selber dafür verantwortlich ist, morgens aufzustehen und Mama aufwecken muss, weil sie nach der Schule immer noch im Bett liegt? Und wem kann man das überhaupt erklären?“
Dafür haben sich in den vergangenen Jahren zwei Initiativen gegründet, die zum einen das Spotlight auf diese „kleinen Held*innen“ richten – klein ist ausdrücklich nur in Bezug auf das Alter gemeint – und sie sichtbar zu machen, ihnen eine Anlaufstelle zu geben, um sich mit Menschen ähnlicher Erfahrungswelten auszutauschen und zum anderen, um sie zu unterstützen. Das BMFSJ hat 2019 hierzu die Initiative „Pausentaste“ ins Leben gerufen, Julika Stich hat schon 2016 ihren Blog „Young helping hands“ mit Erzählungen aus eigener Erfahrung gestartet. Was im Kleinen begann, um für Julika Stich neben der persönlichen Verarbeitung auch Kontakt zu anderen „jungen Pflegenden“ zu knüpfen, ist mittlerweile eine wachsende Initiative, durch die Kinder und Jugendliche an Hilfsangebote weitergeleitet werden.
Das Besondere ist, dass sich hier Menschen engagieren, die aus ganz ähnlichen Lebenswelten kommen und dadurch eine vertrauensvolle Atmosphäre entsteht, in der sich niemand erklären muss, sondern in nickende Gesichter blickt. Dazu gehören mitfühlende Worte wie „ja, genauso war es bei mir auch“. Wenn jemand Julika stellvertretend für die jungen Pflegenden fragen würde, was ihr größter Wunsch wäre, dann wäre es, dass die jungen Pflegenden schon früh für sich lernen, dass sie wichtig, wertvoll und liebenswert sind. Und dass sie Tag für Tag eine unglaubliche Aufgabe erbringen, mit der sie nicht alleine sein müssen, da sie nach Hilfe fragen dürfen, um Kinder zu sein! Deshalb gehören Kinderrechte auch ins Grundgesetz: Kinder haben ein Recht, Kind zu sein.
arbeitete als Krankenschwester und befasst sich als Gesundheitswissenschaftlerin mit der Zukunft der Pflege. Sie ist Mitglied der Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokrat*innen im Gesundheitswesen (ASG) und im Vorstand der SPD Hamburg.