Inland

Wirtschaftsminister wünscht sich mehr Wachstum in Europa

Die europäische Schwäche ist das Kernproblem der deutschen Konjunktur, 
davon ist Bundeswirtschaftsminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel überzeugt.
von Yvonne Holl · 30. Oktober 2014
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Herr Gabriel, angesichts der nach unten korrigierten Wachstumsprognosen warnen Sie vor Alarmismus. Wie bewerten Sie die aktuelle wirtschaftliche Lage?

Zuversichtlich. Deutschland bewegt sich nach wie vor auf einem Wachstumspfad, der deutlich höher ist als 2012 mit 0,7 und 2013 mit 0,4 Prozent. Wir erwarten für dieses Jahr ein Wachstum von 1,2 und für das nächste Jahr von 1,3 Prozent. Zudem wächst die Beschäftigung in Deutschland weiter, und auch die Einkommen steigen. Ich bin daher zuversichtlich, dass die deutsche Wirtschaft ihre aktuelle Schwächephase überwinden wird.

Wirtschaftsforscher und auch Sozialdemokraten haben die Finanzpolitik der Bundesregierung in Frage gestellt, die vorsieht, ab 2015 ohne Neuverschuldung auszukommen. Können Sie deren Sorgen nachvollziehen?

Nein. Die europäische Schwäche ist das Kernproblem der deutschen Konjunktur. Deutschland ist ein Exportland. Wir helfen der deutschen Konjunktur nicht durch Strohfeuer und mehr Schulden, sondern durch europäische Wachstumsimpulse und Mobilisierung privaten Kapitals. Es gibt keinen Grund, jetzt ideologiegeschwängerte Debatten zu führen. Mehr Schulden in Deutschland schaffen doch kein Wachstum in Italien, Frankreich, Spanien oder Griechenland.

Ab Januar werden rund 3,7 Millionen Menschen mehr Geld in der Tasche haben, weil sie dann Mindestlohn verdienen. Wird der Effekt auf die Wirtschaft in der Debatte unterschätzt?

Die Wirtschaftsinstitute haben uns schon im Frühjahr bescheinigt, dass die deutsche Konjunktur im Wesentlichen getragen wird durch die Binnennachfrage. Wodurch steigt die Binnennachfrage? Einerseits dadurch, dass die Menschen den Eindruck haben, dass ihr Job sicher ist. Und andererseits durch bessere Löhne und Tarifabschlüsse. Dass wir mit dem Mindestlohn ein Netz nach unten gespannt haben und den Missbrauch von Leih- und Zeitarbeit eindämmen werden, sind wichtige und längst überfällige Schritte. Absurd ist doch, wenn die Wirtschaftsweisen jetzt sagen, wir müssen einerseits etwas für die Binnennachfrage tun und andererseits den Mindestlohn kritisieren.

Sie sehen die Schwäche des europäischen Wirtschaftsraums als Hauptursache für die gesunkenen Wachstumserwartungen in Deutschland. Wie wollen Sie Wachstum in Europa fördern?

Ja, wir brauchen mehr Wachstum in Europa. Deshalb bin ich auch froh, dass der designierte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ein 300-Milliarden-Euro-Investitionsprogramm angekündigt hat. Natürlich geht es nicht um irgendein Wachstum. Es macht keinen Sinn, neben zwei Autobahnen, die die europäische Union bereits bezahlt hat, eine dritte zu bauen, auf der dann keiner fährt. Es geht schon um die Frage, in welchen Bereichen wir Investitionen brauchen, um die Wettbewerbsfähigkeit in einer sich digitalisierenden globalen Ökonomie zu verbessern. Und deswegen halte ich Investitionen in Breitband, in Digitalisierungsstrategien oder in Energieeffizienz für sinnvolle Investitionen

Und wie wollen Sie die Investitionen in Deutschland erhöhen?

Die Hauptträger der öffentlichen Investitionstätigkeit sind die Kommunen, die wir insgesamt um 10 Milliarden Euro entlasten. Zudem investieren wir 9 Milliarden in mehr Bildung, Forschung und Hochschulen und 5 Milliarden in die Verkehrsinfrastruktur. Darüber hinaus arbeiten wir an neuen Formen zur Finanzierung der öffentlichen Infrastruktur durch privates Kapital. All diese Projekte sind im Koalitionsvertrag vereinbart, und die Umsetzung ist gesichert, ohne neue Schulden aufnehmen zu müssen.

Sie betonen gerne die fachlichen Qualitäten deutscher Unternehmen. Welches Potenzial sehen Sie beim Thema Energieeffizienz?

Ohne Energieeffizienz wird es keine erfolgreiche Energiewende geben. Die Energieeffizienz ist der schlafende Riese der europäischen Energiepolitik. Das fängt mit etwas ganz Einfachem an: Wir heizen in Deutschland bei hunderttausenden Wohnungen im Winter mehr die Vorgärten als die Wohnzimmer, weil die schlecht isoliert sind. Das bestlaufende Konjunkturprogramm in der Krise war die Gebäudesanierung. Wie viele Arbeitsplätze im Handwerk und in der Dämmstoffindustrie könnten wir mit so einem Programm in Europa schaffen! So stelle ich mir ein intelligentes Wachstumsprogramm vor.

Wie wichtig ist die europäische Steuerpolitik  für die hiesige wirtschaftliche Entwicklung?

Jeder Bäckermeister in Deutschland zahlt höhere Steuersätze als Google oder Amazon. Das ist nicht nur äußerst ungerecht, es kostet Europa auch unglaublich viel Geld. Schätzungen zufolge eine Billion Euro. Wenn wir nur 10 oder 20 Prozent davon durch eine faire Mindestbesteuerung in Europa und gemeinsame Bemessungsgrundlagen einnehmen würden, hätten wir viel Geld für Bildung und Investitionen und könnten sogar für die normalen Arbeitnehmer und den Mittelstand noch die Steuern senken.

Autor*in
Yvonne Holl

ist Redakteurin für Politik und Wirtschaft.

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