„Wir müssen uns dem Transformationsprozess gestaltend stellen.“
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Vor dem Hintergrund der hohen Energiepreise wird immer wieder vor einer drohenden De-Industrialisierung Deutschlands gewarnt. Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein?
Veronika Grimm: Das Gespenst der De-Industrialisierung hochzuhalten, ist übertrieben. Es gibt aber Entwicklungen, die für Deutschland unangenehm werden können. Im Mittelpunkt stehen dabei im Moment natürlich die hohen Energiepreise. Insbesondere energieintensive Unternehmen, die international im Wettbewerb stehen, sind unter Druck. Für manche Unternehmen wird die Brücke ins erneuerbare Zeitalter teurer. Andererseits erhöht sich der Druck, die Transformation zu beschleunigen. Das birgt auch Chancen.
Jörg Hofmann: Ich finde den Begriff der De-Industrialisierung ungeeignet um zu beschreiben, um was es geht. Es geht um die Transformation unserer Industrie. Gerade was die Digitalisierung und die sozial-ökologische Wende betrifft, gibt es enorme Potenziale, was neue industrielle Wertschöpfung und damit auch Arbeitsplätze angeht. Die Chancen, die uns die Transformation hier bietet, müssen wir nutzen. Der Fachkräftemangel zwingt uns zusätzlich bereits in einzelnen Sektoren, deutlich an Produktivität und Effizienz zu gewinnen.
USA-Präsident Joe Biden bekämpft die steigenden Preise mit dem sogenannten Inflation Reduction Act (IRA), der u. a. Investitionen in die Dekarbonisierung der Wirtschaft enthält. Wäre so etwas auch ein Modell für Europa?
Grimm: Der IRA hat ja mehrere Facetten. Zum einen unterstützt er die US-amerikanische Produktion. Mit einem ähnlichen Protektionismus zu antworten, einer Art „Europe First“, wäre aus meiner Sicht keine gute Idee. Das letzte, was wir jetzt brauchen, ist ein Handelskrieg mit den USA. Positiv ist die Beschleunigung des Klimaschutzes durch den IRA, etwa durch umfangreiche Tax Credits bei Erneuerbaren Energien und Wasserstoff. Das setzt uns in Europa aber auch unter Zugzwang. In der Europäischen Union dürfte einem ähnlichen Modell wie beim IRA allerdings das Beihilferecht im Weg stehen.
Hofmann: Das zeigt für mich, dass das europäische Beihilferecht dringend reformiert werden muss. Die Bedingungen der Transformation sind heute ganz andere als zur Entstehung des Rechtsrahmens in den 90er Jahren. Was den IRA angeht, sollten wir nicht auf die USA blicken wie das Kaninchen auf die Schlange, sondern uns auf unsere Stärken besinnen. Eine ist – bei aller Kritik – immer noch unsere Infrastruktur. Leider liegen wir da beim Ausbau aber deutlich hinter den Zielen zurück, die sich die Bundesregierung gesetzt hat, bei der Energiewende genauso wie bei der Mobilitätswende. Da geht es nicht nur um öffentliche Investitionen, sondern um Rahmenbedingungen. Es ist nicht so, dass es nicht genug Unternehmen gibt, die etwa in Offshore-Windenergie investieren würden. Sie brauchen aber auch eine Verlässlichkeit, wie ihre Geschäftsmodelle in fünf oder zehn Jahren aussehen werden. Auch für den Aufund Ausbau der Wasserstoff-Infrastruktur wird das entscheidend sein.
Grimm: Angesichts des IRA sollten wir alles daransetzen, den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft schnell voranzutreiben. Die Netzinfrastruktur für Wasserstoff muss schnell aufgebaut werden. Wir müssen Verträge abschließen, um im großen Stil Wasserstoff zu importieren, am besten europäisch abgestimmt. Ist die Verfügbarkeit von Wasserstoff absehbar, können die potenziellen Abnehmer damit planen. Gelingt es, die neuen Wertschöpfungsketten schnell aufzubauen, so geraten wir gegenüber den USA nicht ins Hintertreffen. Entscheidend wird es sein, bürokratische Hemmnisse abzubauen, die Verwaltung konsequent zu digitalisieren und die Komplexität der Regulatorik zu reduzieren. Wir brauchen auch eine öffentliche Diskussion über die Akzeptanz von Veränderungen, die diese Transformation mit sich bringen wird. Ich denke da an den Aufbau von Versorgungsinfrastruktur wie Stromleitungen oder Wasserstoff-Pipelines, aber auch an den Abbau von Rohstoffen. Wir haben in der Vergangenheit vieles importiert, um Konflikte nicht hierzulande austragen zu müssen. Nun müssen wir den Menschen erklären, dass wir uns darauf einstellen müssen, weniger Dinge in andere Regionen der Welt auszulagern, etwa den Abbau kritischer Rohstoffe. Die aktuellen Abhängigkeiten müssen wir nicht zuletzt aus sicherheitspolitischen Erwägungen heraus dringend reduzieren.
Hofmann: Den disruptiven Wandel kennen wir in Deutschland. Ganze Wertschöpfungsketten sind innerhalb kürzester Zeit aus Deutschland verschwunden und in anderen Regionen der Welt wiederaufgetaucht, vor allem in Asien. Das war so mit der Uhrenindustrie, der Unterhaltungselektronik und jüngst bei der Photovoltaik. Gerade sind wir in der Gefahr, die Technologieführerschaft in der Windkraft zu verspielen. Was wir auch kennen, ist der Ausstieg. Die mit zig Milliarden öffentlicher Mittel organisierte Stilllegung von Kohle und Atom. Was wir bisher nicht kennen, ist der Umbau. Wir müssen Wertschöpfungsketten am offenen Herzen verändern. Wir müssen ein filigranes Netz von Unternehmen, auch vieler kleiner und mittlerer Unternehmen, im Betrieb umbauen ohne dass es zusammenbricht.
Was bedeutet das für die Beschäftigten?
Hofmann: Wir müssen Hunderttausende Kolleginnen und Kollegen aus ihrem gewohnten Arbeitsumfeld heute in ein grundlegend verändertes Arbeitsumfeld morgen bringen und ihnen gleichzeitig eine Perspektive geben, dass sich ihre Situation nicht verschlechtert, sondern möglichst verbessert. Aus Sicht der Beschäftigten sind Erfolg oder Misserfolg der Transformation keine Frage von gesamtwirtschaftlichen Bilanzen, sondern von beruflichen Chancen, die ein gutes Einkommen und Perspektiven für die Zukunft sichern. Und dies in der Region in der sie leben.
Wie wird die Transformation in Deutschland ein Erfolg?
Grimm: Für eine Transformationsstrategie braucht man natürlich verschiedene Bausteine. Wichtig sind Netzwerke, die dazu führen, dass sowohl große Unternehmen als auch der Mittelstand eine Perspektive dafür bekommen, was potenzielle neue Geschäftsmodelle sind. Die Betriebe müssen ein Bild davon entwickeln, welche Fähigkeiten sie haben, die ihnen auch in der neuen Welt von Nutzen sind und wie ihre Mitarbeiter dafür weiterqualifiziert werden müssen. Dafür ist es zwar wichtig, dass der Staat zielgerichtet die vom Strukturwandel betroffenen Regionen unterstützt. Wir müssen aber sehr aufpassen, dass sich der Staat auch nicht übernimmt. Es muss daher insbesondere darum gehen, umfangreich private Investitionen zu mobilisieren.
Hofmann: Wir müssen uns diesem Transformationsprozess gestaltend stellen und dürfen uns nicht auf die letzten Kohlehügel zurückziehen. Das bedeutet auch, Verantwortung dafür zu übernehmen, dass das Projekt sozial-ökologische Transformation gelingt. Es verliert aber an Glaubwürdigkeit, wenn die Politik jedes Jahr hinter den selbst gesteckten Zielen, etwa beim Klimaschutz oder beim Ausbau der Erneuerbaren Energien, zurückbleibt.
Die Bundesregierung plant auch, die Zuwanderung von Fachkräften zu erleichtern. Reicht das, was bisher diskutiert wird, aus?
Grimm: Es ist gut und richtig, wenn die Zuwanderung von Fachkräften erleichtert wird. Wenn wir als Zuwanderungsland attraktiv sein wollen, müssen wir die Behörden aber auch darauf ausrichten. Sinnvoll wäre, hier Zuständigkeiten zu zentralisieren, also Service-Agenturen für Zuwanderung auf Landes- oder sogar auf Bundesebene zu etablieren und eine wirkliche Willkommensstruktur zu schaffen. Und es braucht Kommunikation. Für die Menschen in Deutschland muss deutlich werden, dass wir als Volkswirtschaft diese Zuwanderung brauchen und sie dadurch selbst nicht unter Druck geraten.
Hofmann: Wir brauchen Zuwanderung, ohne Frage. Wir brauchen aber auch Antworten in anderen Bereichen. Was ist die Antwort auf den Skandal, dass mehr als 100.000 Jugendliche jedes Jahr die Schule verlassen ohne in den Folgejahren eine Ausbildung oder ein Studium zu beginnen? Wie ermöglichen wir es insbesondere Frauen, in Vollzeit zu arbeiten, wenn sie es wollen? Aber vor allem: Wie unterstützen wir die Millionen Fachkräfte, deren Arbeitsaufgabe sich teilweise dramatisch ändert, eine neue berufliche Qualifizierung, bis hin zum zweiten Berufsabschluss, zu erlangen? Das sind die Kernfragen, die eine Arbeitsmarktpolitik zu beantworten hat, soll der sozial-ökologische Wandel nicht am Fachkräftemangel scheitern. Das kann nicht nach Kassenlage entschieden werden, es bedarf Milliarden Investitionen in die berufliche Entwicklung der notwendigen Fachkräfte für diesen Wandel.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.