„Wir haben einen Giganten verloren“
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Hamburg trauert.
Und nicht nur Hamburg – Deutschland, Europa, ja die ganze Welt beklagt den Verlust eines großen Politikers und Bürgers. Es ist noch kaum vorstellbar, dass wir künftig gesellschaftliche und politische Debatten ohne ihn werden führen müssen.
Liebe Familie Schmidt,
liebe Familie Loah,
sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
Exzellenzen,
sehr geehrte Trauergäste,
Wir nehmen heute Abschied von Helmut Schmidt.
Wohl selten in Deutschland sind einem Politiker so viel Respekt und Vertrauen entgegengebracht worden. Selten hat jemand in solch gelassener Selbstverständlichkeit die öffentlichen Belange, die res publica, verkörpert wie er: ein Staatsmann im eigentlichen Sinn des Wortes.
Als in den Nachrichtensendungen zu seinem Tod die politischen Würdigungen zitiert wurden, hieß es dort auch, dass er ein „erleuchteter Europäer“ gewesen sei.
Ich bin mir sicher: Das war ein Übersetzungsfehler und es hieß im Original „enlightened“ – also: aufgeklärt. Das war Helmut Schmidt ohne Zweifel.
Aber es ist schon bemerkenswert, dass eine Redaktion auch den „erleuchteten Europäer“ durchaus im Bereich des Möglichen gesehen hat.
Dabei hat Helmut Schmidt wiederholt betont, dass er den Tod für endgültig halte und danach nichts komme. Ich will das nicht ausdeuten, für uns Nachbleibende trifft das jedenfalls nicht zu. Er ist von uns gegangen, aber vieles von ihm bleibt bei uns.
Das gilt, liebe Susanne Schmidt, liebe Ruth Loah, natürlich gerade für diejenigen, die ihm besonders nahe gewesen sind. Wir fühlen mit Ihnen.
Wir alle verlieren einen wichtigen Wegbegleiter. Gemeinsam mit Helmut Schmidt haben wir erlebt, wie aus lebensklugem politischem Pragmatismus scheinbar unbegrenzte moralische Autorität erwachsen kann. Gegründet auf dieses Fundament hinterlässt er uns ein Erbe, das wir annehmen wollen. Wir haben vieles von ihm gelernt. Das bleibt.
Und so mischt sich an diesem Tag in unsere Trauer auch die Dankbarkeit für das, was Helmut Schmidt uns mit auf den Weg gegeben hat.
Von Helmut Schmidt haben wir gelernt, was es heißt, in einer demokratischen und offenen Gesellschaft politische Verantwortung zu übernehmen.
Viele, gerade in dieser Stadt, erinnern sich an den beherzten Hamburger Polizeisenator, der 1962 mit Klugheit und Augenmaß eine größere Katastrophe verhindert hat. Als die Dämme brachen, organisierte er die notwendige Hilfe – selbst wenn er den gesetzlichen Rahmen etwas dehnen musste. Viele Geschichten werden darüber erzählt.
Am bedeutsamsten aber ist, mit welcher Klarheit Schmidt hier Kants kategorischen Imperativ zur Richtschnur einer verlässlichen Politik in unübersichtlichen Zeiten gemacht hat.
15 Jahre später, unter dem Terror der RAF, sollte diese politische Grundhaltung erneut auf die Probe gestellt werden. Dass sich der deutsche Staat nicht hat erpressen lassen, hat ihn gegen den Terror gewappnet. Es hat aber auch den Träger dieser Entscheidungen in Stunden tiefer Verzweiflung gestürzt. Verantwortung muss man bereitwillig tragen, bisweilen auch ertragen.
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Der Rigorismus dieser nur scheinbar so formalen Feststellung ist wesentlich dafür, wie Helmut Schmidt von den Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen wurde.
Er hat vorgelebt, wie anständige und vernünftige Politik aussieht. Seine Geradlinigkeit hat Vertrauen erzeugt und ihn zum Vorbild für viele gemacht.
Unsere freiheitlich demokratische Verfassung fußt auf der Überzeugung, dass jeder Einzelne Verantwortung für sich und für die Gemeinschaft übernimmt und übernehmen kann. Daraus entsteht die offene Gesellschaft, die Helmut Schmidt so am Herzen lag.
Wir erleben heute wie attraktiv diese Offenheit ist. Wir spüren aber auch, dass sie erbitterte Feinde hat. Wir haben das vor zehn Tagen bei den Terroranschlägen von Paris erleben müssen.
Wir werden die Freiheit, die Gleichheit und die Brüderlichkeit unserer offenen Gesellschaft gegen diese feigen Angriffe verteidigen. Die Werte der Aufklärung und des Humanismus sind nicht kulturabhängig. Sie besitzen universelle Gültigkeit.
Wir verteidigen sie, indem wir sie so leben und verkörpern, wie Helmut Schmidt es zeitlebens getan hat. Freiheit und Sicherheit kann man nicht aufwiegen. Sie bedingen einander.
Ein politisches Angebot zu formulieren, das Sicherheit im Wandel der Moderne vermittelt, ohne die Freiheit des Wandels dadurch in Frage zu stellen, gehört zu den großen Lebensleistungen Helmut Schmidts.
Meine Damen und Herren,
von Bundeskanzler Helmut Schmidt haben wir gelernt, wie eine soziale und demokratische Politik mit klugen und pragmatischen Reformen helfen kann, das Leben vieler zu verbessern.
Politik ist pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken hat er geschrieben und damit die nüchtern pragmatische Philosophie Karl Poppers auch der bisweilen eher romantisch idealistischen Sozialdemokratie erschlossen. Der Reformismus Eduard Bernsteins fand so nicht nur eine weitere philosophische Grundlage, sondern zugleich auch seine politische und praktische Realisierung im Regierungshandeln der sozialliberalen Koalition.
Hier zeigt sich, dass Helmut Schmidt zeitlebens ein Intellektueller gewesen ist, der viel Energie in die redliche Begründung seiner politischen Initiativen investierte. Aber er war ein Intellektueller, dem das kluge Kommentieren der Zeitläufte nie genug war. Für ihn war die Theorie untrennbar mit der Praxis ihrer Umsetzung verbunden. Erst dann konnte sie Gültigkeit beanspruchen.
Daraus entsteht ein Politikstil der vielen kleinen Schritte, der bis heute Regierungen ganz unterschiedlicher politischer Couleur prägt.
Die Vorstellung, dass sich unsere Gesellschaft auf diese Weise nachhaltig verbessern lässt, ist zutiefst demokratisch und einer dynamischen Moderne mehr als angemessen.
Auf Grundlage solch stetiger Politik hat sich der Sozialstaat zu jener „größten Kulturleistung entwickelt, die die Europäer im Lauf dieses schrecklichen 20. Jahrhunderts zustande gebracht haben“, wie Helmut Schmidt oft betont hat.
Wir müssen ihn in seiner Substanz bewahren und als Grundlage unseres wirtschaftlichen Erfolges und unseres sozialen Zusammenhalts mit unseren europäischen Partnern weiter entwickeln. Auch das hat uns der große Sozialdemokat Helmut Schmidt aufgegeben.
Überhaupt: Europa! Von Helmut Schmidt haben wir gelernt, dass Deutschland seine Rolle in der Welt nur als Teil Europas finden wird.
Die Mahnung zur Zusammenarbeit zwischen den europäischen Völkern und Regierungen hat einen sehr ernsten Kern: Nur so ließe sich verhindern, dass sich – und ich sage es auch in dieser Härte mit den Worten Helmut Schmidts – die „große Scheiße des Krieges“ wiederhole. Hier sprach auch der junge Wehrmachtssoldat, der selbst erleben musste, welche Verwüstungen der Krieg auf unserem Kontinent angerichtet hat. Kurt Schumachers Ruf "Nie wieder Krieg!" war ein Grund dafür, dass er Sozialdemokrat wurde.
Über Jahrhunderte hinweg haben sich unsere Nachbarn insbesondere vor der Ballung politischer und wirtschaftlicher Macht in der Mitte Europas gefürchtet. Das große Glück, für das wir heute die Verantwortung tragen, liegt darin, dass sich das geändert hat. Nur inmitten der europäischen Union sind die Wiedervereinigung und das Wiedererstarken Deutschlands möglich gewesen. Nur als Teil einer europäischen Union werden die Nationalstaaten unseres Kontinents globale Relevanz bewahren.
Internationale Zusammenarbeit ist Helmut Schmidt auch deshalb immer ein Herzensanliegen gewesen. Der Euro, der Prozess der G7/G8, die weitere Vertiefung der europäischen Gemeinschaft – all dies geht auch auf seine Initiativen zurück.
Heute erleben wir eine Europäische Union, die vielfach herausgefordert ist – durch die Finanzkrise, durch den Zustrom der Flüchtlinge und leider immer wieder auch durch den Terror.
Wir stehen in einer ernsten Bewährungsprobe. Lieber Jean Claude Juncker, lieber Martin Schulz, wir müssen das humanistische Erbe und die wirtschaftliche Kraft Europas gemeinsam sichern.
Vielfach hat Helmut Schmidt auf die Wege verwiesen, die wir beschreiten müssen, um Europa zu sichern. Sein stets klares Plädoyer für die Rettung Griechenlands war dafür nur ein Beispiel.
Seiner SPD hat er auf dem Parteitag im Jahr 2011 aufgegeben, dass sie sich um das in der Menschheitsgeschichte einzigartige Projekt der Europäischen Union kümmern müsse. Die EU sei weniger als ein Bundestaat, müsse aber mehr sein als ein Staatenbund. Sie lebe von Standfestigkeit und Selbstbewusstsein. Mehr denn je.
Dafür brauchen wir, lieber Giscard d’Estaing, lieber Jean-Marc Ayrault, den Schulterschluss mit den Freunden in Frankreich, die Helmut Schmidt immer besonders nahe standen und denen wir uns in diesen Tagen so besonders verbunden fühlen.
Wir brauchen die transatlantische Freundschaft, lieber Henry Kissinger, als eine wesentliche Triebfeder.
Wir brauchen den fortdauernden Dialog und die noch lange höchst komplizierte Zusammenarbeit mit Russland und natürlich auch mit China.
Die Nachricht vom Tode Helmut Schmidts erreichte mich auf einer Delegationsreise in Beijing. Die dortigen Reaktionen haben uns noch einmal beeindruckend die Bedeutung des Weltpolitikers Helmut Schmidt vor Augen geführt: Der chinesische Präsident und der Premier kondolierten ausdrücklich persönlich „in eigenem Namen“. Und das Staatsfernsehen sendete einen Nachruf auf einen „alten Freund des chinesischen Volkes“. Die Welt rückt zusammen, wenn sie Verbindendes erlebt. Gerade an Tagen wie diesem.
Meine Damen und Herren,
von Helmut Schmidt haben wir gelernt, wie nahe sich Politik und Publizistik in ihrer Verantwortung für die öffentlichen Belange der sind.
Schon als Politiker hat er sich darum bemüht, die Geschichte seiner Politik nicht nur zu erzählen, sondern auch aufzuschreiben. Wohl kaum ein aktiver Politiker hat so viele und so relevante Bücher geschrieben.
Und er hat sich die Zeit genommen, die eine schon damals ziemlich atemlose Mediendemokratie nicht immer bereitwillig hergibt, um Politik einzuordnen und verständlich zu machen. Er hat damit die Orientierung gegeben, die heute oftmals im Strom der vermeintlich immer neuen Nachrichten verloren geht. Er hat Perspektive und Richtung gezeigt.
Nach dem Abschied aus dem Kanzleramt wechselte Schmidt vollends in die Rolle des politischen Publizisten und prägte aus dem Pressehaus der ZEIT heraus über Jahrzehnte nicht nur diese bedeutende Wochenzeitung. Die Rolle des öffentlichen Intellektuellen füllte er mit ebensolcher Stringenz aus wie vorher seine politischen Ämter. Und die Verantwortungsethik seiner aktiven Zeit prägte ihn auch nach diesem vermeintlichen Seitenwechsel.
Trotz aller spöttisch koketten Distanz zu den viel zitierten Wegelagerern ist er am Ende selbst zum großen Journalisten und Leitartikler geworden.
Meine Damen und Herren,
von Helmut Schmidt haben wir auch immer wieder aufs Neue gelernt, wie wichtig Heimat ist. Für ihn hieß diese Heimat Hamburg.
Als Politiker und Publizist hat Helmut Schmidt Deutschland, Europa und die Welt geprägt. Zuhause aber war er hier in der Freien und Hansestadt – kulturell, intellektuell und persönlich.
Natürlich konnte und wollte er seine Heimatstadt nicht verleugnen. Zu deutlich hörte man seine Herkunft, wenn er im Bundestag das Wort ergriff.
Die hamburgische Schnoddrigkeit, aus der man die Jugend in Barmbek heraushören konnte, gehörte ebenso zu ihm wie die natürliche Eleganz des freiheitsliebenden hanseatischen Bürgers, der auch über den spitzen Stein stolpern konnte.
Und dann bleiben da die Bilder von den Besuchen der Großen und Mächtigen dieser Welt in seinem Reihenhaus in Langenhorn. Sie haben manchen Gast herausgefordert, der an mehr Pomp gewöhnt war. Vor allem aber zeigen sie auf erstaunlich beiläufige Weise, wie selbstverständlich „normal“ Politik eben auch sein kann. Die kluge und unprätentiöse Herzlichkeit, die gerade auch von Helmut Schmidts lebenslanger Gefährtin und Ehefrau Loki ausging, war berührend und nahm viele nicht nur für die beiden ein, sondern auch für die Stadt, in der sie lebten.
Helmut Schmidt hat sich an seiner Heimatstadt gerieben, wenn sie es sich wieder einmal zu gemütlich gemacht hat in ihrer Schönheit und in ihrem Wohlstand. Dann präsentierte er mit Nachdruck drängende Fragen, mit denen sich Politik und Bürgerschaft der Stadt auseinandersetzen mussten. Und zwar schon deshalb, weil man davon ausgehen konnte, dass Helmut Schmidt zumindest immer auch Recht hat.
Das letzte Buch, das Helmut Schmidt zu Lebzeiten veröffentlicht hat, handelt aber geradezu zärtlich und liebevoll von Hamburg. Es zeigt seine tiefe emotionale Verbundenheit zu einer Heimat, die immer mehr gewesen ist, als bloß ein zufälliger Geburts- und Wohnort. Hier hätte er auch Städtebauer oder Hafenkapitän werden können.
Ich bin froh, dass wir in den vergangenen Jahren ein andauerndes intensives Gespräch führen konnten. Vor wenigen Wochen noch bin ich mit Helmut Schmidt im Hafen unterwegs gewesen. Interessiert und informiert wie immer wollte er viel darüber wissen, wie das moderne Hamburg als fester Teil Europas aussehen wird und welche Verantwortung die Stadt zu übernehmen bereit ist.
Er regte an, das reiche Erbe der Hanse und der in ihr gelebten Zusammenarbeit der Städte auch für die europäische Einigung nutzbar zu machen. Kurz zuvor hatte er sich auf den Weg nach Lübeck gemacht und dort überraschend und unangemeldet das neue Hansemuseum besucht.
Er sieht die alten Hansestädte wie seine Heimatstadt heute ganz besonders in der Pflicht. Eine Perspektive, die nähere Betrachtung verdient.
Ich hoffe jedenfalls, dass wir seinen Erwartungen weiterhin gerecht werden und Helmut Schmidts Schöne auch in Zukunft aufgeweckt bleiben wird.
Meine Damen und Herren,
das politische Vermächtnis dieses reichen politischen und bis zum Schluss öffentlichen Lebens lässt sich nicht in wenigen Worten umreißen. Helmut Schmidt wird einer der zentralen Fixpunkte der Politik bleiben. Er hat Spuren hinterlassen, von denen wir manche erst noch entdecken werden.
Heute sind wir Hamburgerinnen und Hamburger gleichermaßen traurig und dankbar.
Traurig, weil wir uns von einem einzigartigen und unsere Stadt prägenden Ehrenbürger verabschieden müssen.
Und dankbar, weil wir zumindest einen Teil dieser Wegstrecke gemeinsam mit ihm gehen durften.
Wer die Schlangen vor den Kondolenzbüchern in der Rathausdiele gesehen hat, wer die vielen persönlichen Geschichten hört, die jetzt allerorten erzählt werden, der spürt, wie bedeutsam Helmut Schmidt im Leben vieler gewesen ist – selbst wenn sie ihm nie persönlich begegnet sind.
Es mag pathetisch klingen und ist doch wahr:
Wir haben einen Giganten verloren.
Politisch. Menschlich.
Diese Lücke wird bleiben. Wir werden sie spüren.
Aber wir werden sie füllen mit den vielen Erinnerungen, die uns bleiben und trösten. Mit den Erinnerungen an die außergewöhnliche Partnerschaft zwischen Helmut und Loki Schmidt. An die Ratschläge und Anstöße. An die Mahnungen und die Seufzer. Und an manche Zigarette selbst am unpassenden Ort.
Unsere traditionsreiche Stadt ist auch reich an großen Söhnen und Töchtern, die von hier die Welt geprägt haben. Heute verneigen wir uns in tiefer Trauer und unendlicher Dankbarkeit vor dem Größten von ihnen.