Wir brauchen die Verkehrswende. Jetzt!
Thomas Trutschel/photothek.net
19.807 – so viele Menschen sind in Deutschland seit Bekanntwerden des Abgasskandals im September 2015 an den Folgen gesundheitsschädlicher Emissionen gestorben. Hinzu kommen chronische Erkrankungen der Atemwege, Herz-Kreislaufprobleme sowie ein erhöhtes Risiko für Allergien. Der Aufenthalt von nur einer Stunde im Straßenverkehr, unabhängig ob im Auto, auf dem Fahrrad oder zu Fuß, kann das Herzinfarkt-Risiko kurzzeitig um das Dreifache erhöhen, wie die Europäischen Umweltagentur belegt hat.
Was bisher geschah: nichts
Auch ein Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und von Fahrradwegen kann die krebserregenden Schadstoffe nicht kompensieren, denn was einmal als Feinstaub und Stickoxide in die Luft gepustet wird, atmen wir ein. Wer täglich mit dem Rad zur Arbeit fährt, lebt eben leider nicht gesünder, da er an jeder Ampel gesundheitsschädliche Emissionen einatmen muss.
Die EU war es, die Deutschland bereits Jahre vor dem Abgasskandal eine besorgniserregend schlechte Luftqualität bescheinigte. 2014 leitete die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen erhöhter Feinstaubbelastung in Leipzig und Stuttgart ein. Brüssel forderte, Diesel-Werke zu reglementieren, umweltschädliche Steuervorteile zu reduzieren und die Gesundheit der Stadtbewohner durch striktere Umweltzonen zu schützen. Was passierte? Nichts.
Menschen werden vorsätzlich krank gemacht
Die Verantwortlichen in Politik blieben tatenlos — während die Verantwortlichen in der Industrie zur Tat schritten und Betrugssoftware entwickelten um die schlechten Schadstoffwerte des Diesels zu verstecken. Jahrelang wurden so Menschen krank gemacht — und zwar vorsätzlich. Dabei wird deutlich, worum es hier wirklich geht: Der Dieselskandal ist keine Umweltbelastung. Er ist eine direkte Belastung für die Menschen. Und zwar in der Regel nicht für diejenigen hinterm Steuer, sondern für diejenigen, die an vielbefahrenen Straßen leben. Und das sind diejenigen, die meist auch wirtschaftlich abgehängt werden. Zugespitzt: Ein Kartell aus betrügenden Wirtschaftsbossen und vermögenden SUV-Liebhabern macht die Armen krank.
Angesichts von 19.807 Dieseltoten fragt man sich schon, wo der Gesundheitsminister und die Kanzlerin sind, wenn sich die Umweltministerin mit einem tatenlosen Verkehrsminister die Automobilindustrie vorknöpft. Es ist Zeit für mehr Ehrlichkeit in der Debatte. Diesel macht krank: Kopfschmerzen, Schwindel und Atemnot kennen viele Menschen, die sich vor allem an heißen Tagen auch nur für kurze Zeit durch den Straßenverkehr bewegen müssen.
Dieselabgase sind so gefährlich wie Asbest
Verursacht werden diese Beschwerden vor allem durch zwei Bestandteile: Feinstaub und Stickstoffoxide. Letztere sind ein ätzendes Reizgas, das Bronchitis, Lungenödeme und Allergien auslöst. Feinstaubpartikel lagern sich in der Lunge ab und verursachen Entzündungen, Gewebewucherungen und schlimmstenfalls Lungenkrebs. Studien haben längst gezeigt, dass Dieselabgase genauso gesundheitsschädlich sind wie Asbest. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Diesel-Emissionen daher im Jahr 2012 nicht mehr als „potentiell krebserregend“, sondern als „eindeutig krebserregend“ eingestuft.
Obwohl die gesundheits- und umweltbelastenden Auswirkungen von Diesel-Abgasen seit Jahren bekannt sind, haben sich Politik und Automobilhersteller gleichermaßen der Verantwortung aufgrund eigener ökonomischer Interessen nicht nur entzogen, sondern eine ökologische Verkehrswende durch ihre Verweigerungshaltung auch systematisch verhindert. Das gegenwärtige Argument, 800.000 Arbeitsplätze in der Autoindustrie durch eine Verkehrswende nicht gefährden zu wollen, ist kurzsichtig. Der Erfolg von Tesla, Quoten für Elektroautos im Ausland und das Pariser Klimaabkommen zeigen, dass sich die Automobilkonzerne mit ihrer Politik der immer größeren Diesel, die vielleicht einmal ein Quäntchen effizienter werden, in die Sackgasse fahren. Spätestens in 15 Jahren dürfen genau 0 Gramm CO2 und andere Schadstoffe den Auspuff verlassen, damit wir unsere internationalen Vereinbarungen erfüllen.
Die saubere Technik entsteht im Ausland
Doch statt eine ökologische Industriepolitik einzuleiten, lassen sich Wirtschafts- und Industrieminister und auch die Kanzlerin auf den Autosalons lieber mit hochbezahlten Betrügern neben blank polierten Dreckschleudern ablichten. Auf Kosten schöner Fotos und kurzfristiger Bilanzgewinne werden so Menschen mit Diesel getötet und Arbeitsplätze vernichtet, weil die saubere Technik von Morgen im Ausland entsteht.
Der Einbau von Filtern, die Schaffung von Umweltzonen oder gar eine deutliche Reduzierung des Schadstoffausstoßes ist langfristig keine Lösung. Es fehlt ein Kurswechsel in Richtung zukunftsfähiger Mobilität. Die beginnt mit einer konsequenten Vermeidung des motorisierten Verkehrs, der Verlagerung auf umweltschonende Verkehrsmittel, einer ambitionierten Weiterentwicklung der europäischen CO2-Grenzwerte für Pkw, der Einführung von Grenzwerten für Lkw und vor allem der Abschaffung umweltschädlicher Subventionen sowie der Etablierung wirksamer Kontroll- und Marktüberwachungsmechanismen.
Die Verkehrswende von unten umsetzen
Dabei können wir uns jedoch nicht mehr auf Politik und Industrie verlassen. Die letzten Monate haben noch einmal verdeutlicht, dass die einseitige Autopolitik der Bundesregierung nicht zukunftsfähig ist und die Verflechtungen mit der Autoindustrie auf Dauer der Umwelt, den Menschen und auch den Konzernen und ihren Beschäftigten selbst schadet. Daher muss die Verkehrswende zusammen mit Umweltverbänden, Ärzten, Gewerkschaften, Vertretern der Bahn und weiteren zivilgesellschaftlichen Akteuren von unten umgesetzt werden.
Und besonders die Sozialdemokratie ist es, die hier in der Pflicht ist — aus mehreren Gründen:
- Es sind besonders die Geringverdiener, die an vielbefahrenen Straßen leben und durch die Dieselabgase krank werden. Wer Gerechtigkeit ins Regierungsprogramm schreibt, muss sie auch umsetzen.
- Die SPD ist ein starker Partner der Arbeitnehmer. Wenn die 800.000 Arbeitsplätze in der Automobilindustrie erhalten werden sollen, wird das nur ohne Diesel und Benzin gehen. Hier müssen wir den sozialverträglichen Strukturwandel einfordern und einleiten.
- Die Sozialdemokratie ist die als älteste Partei Deutschlands, die Partei des Strukturwandels. Wer wenn nicht sie kann glaubwürdig Veränderungen für dies Menschen und mit den Menschen erreichen?
Sie muss es nur wollen — und sich klar machen: Wer bei 19.807 Toten nicht handelt, macht sich mitschuldig.