Wie türkische Agenten in Deutschland Erdoğan-Kritiker ausspionieren
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Von der Idee sind nicht alle begeistert: Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan will die Verfassung seines Landes ändern und ein Präsidialsystem einführen. Für das Referendum am 16. April wird allerdings ein knappes Ergebnis erwartet, eine Mehrheit gegen die neue Verfassung ist nicht ausgeschlossen. Aus diesem Grund setzt die AKP-Regierung auf die Stimmen der „Alamancılar“, der Türken aus Deutschland. Ohne diese wird Erdoğan seinen Willen womöglich nicht durchsetzen können.
Im Taxi oder auf Facebook: Kritiker im Fokus
Insgesamt 1,4 Millionen wahlberechtigte Türken leben in der Bundesrepublik, laut „Zeit Online“ ist Deutschland damit der viertgrößte türkische Wahlbezirk. Keine Wunder, dass der Geheimdienst MİT die türkische Community in Deutschland im Visier hat. Offenbar suchen die Spione nach angeblichen Anhängern der islamischen Gülen-Bewegung sowie linken Erdoğan-Kritikern – nach politisch engagierten Kurden sowieso. Unter den Agenten seien Taxifahrer, die ihre Fahrgäste aushorchten, oder Jugendliche, die aus Ankara bezahlt würden, um bei Facebook Informationen zu sammeln. Das sagte Mehtap Erol, Berliner Co-Vorsitzende der pro-kurdischen Partei HDP, am Mittwoch im Gespräch mit vorwärts.de.
Ganze Listen mit Namen, Adressen, Telefonnummern und Fotos von Regierungskritikern soll es geben. Unter den rund 300 Zielpersonen soll sich auch die SPD-Außenpolitkerin Michelle Müntefering, die Vorsitzende der Türkisch-Deutschen Parlamentariergruppe des Bundestags, befinden.
Nach Informationen von NDR, WDR und „Süddeutscher Zeitung“ wurde eine der geheimen Listen am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz sogar an den BND-Präsidenten Bruno Kahl übergeben – offenbar erhoffte sich MİT-Chef Hakan Fidan Amtshilfe beim Aufspüren von Erdoğan-Gegnern in Deutschland.
SPD-Politiker: Keine Zusammenarbeit mit Ankara
Geht es nach dem Willen deutscher Spitzenpolitiker, wird Ankara allerdings wohl vergeblich auf Unterstützung aus Deutschland warten. Über die Aktivitäten des türkischen Geheimdienste sagte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) am Dienstag in der ARD: „Das ist nicht hinnehmbar und deswegen haben wir die Personen angesprochen, um sie davor zu warnen.“ Gemeint sind sogenannte Gefährdeten-Ansprachen durch die Polizei: Alle, die auf der Liste des MİT stehen, werden von der Polizei davor gewarnt, in die Türkei zu reisen – da ihnen dort womöglich Repressalien und Verhaftung drohen.
Auch Bundesinnenminister Heiko Maas schaltete sich am Mittwoch in die Debatte ein. Auf Twitter unterstrich er, dass Spionage einen Straftatbestand darstelle.
Der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Thomas Oppermann, ging auf die Rolle der deutschen Geheimdienste ein: „Was hat unsere Spionageabwehr bisher gemacht?“, fragte er am Mittwoch im ZDF. „Da ist wahrscheinlich einiges versäumt worden.“ Es sei jedoch richtig gewesen, die betroffenen Menschen zu warnen und nicht mit der türkischen Regierung zu kooperieren.
Viele ‚Nein’-Sager stimmen nicht ab
Inzwischen hat sich auch die Bundestaatsanwaltschaft eingeschaltet und Ermittlungen wegen des Verdachts auf Spionage angekündigt. Die HDP-Politkerin Mehtap Erol begrüßt diese Entscheidung. Seit Montag ist die Aktivistin als Wahlbeobachterin der HDP im türkischen Konsulat in Berlin, überwacht dort die Abstimmung zum Verfassungsreferendum. Die Spionage-Vorwürfe hält sie längst für erwiesen. „Für uns ist das nicht neu“, sagt sie. Bisher habe sich die deutsche Öffentlichkeit jedoch nur wenig für das Verhalten der Erdoğan-Regierung interessiert: „Wir wurden von der deutschen Gesellschaft nicht beachtet“, klagt Erol. Mit dem Fall des in der Türkei inhaftierten deutschen Journalisten Deniz Yücel habe sich das jedoch inzwischen geändert – worüber Mehtap Erol sehr froh ist.
Die Spionage des MİT auf deutschem Boden zeige bereits Auswirkungen auf den Wahlprozess in den Konsulaten, ist sie sicher: „Viele haben Angst, ihre Stimme abzugeben.“ Wer beim Geheimdienst als Erdoğan-Kritiker und Gegner der Verfassungsreform bekannt sei, müsse bei der Stimmabgabe auf dem Konsulat mit dem Einzug des Reisepasses rechnen. Die Folge: „Viele, die ‚Nein’ sagen würden, haben Angst, den Pass vorzulegen,“ sagt Mehtap Erol. Sollte der Pass eingezogen werden, könne ein neues Reisedokument nur in der Türkei ausgestellt werden – wo Regierungskritikern häufig hohe Haftstrafen drohen.
ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.