Inland

Wie Serdal Sardas erster Betriebsrat von Amazon wurde

Serdal Sardas ist der erste Betriebsratsvorsitzende bei Amazon in Wunstorf. Die Idee, einen Betriebsrat zu gründen, kam ihm beim Grillfest der Jusos. Da konnte er noch nicht ahnen, was alles auf ihn zukommt.
von Vera Rosigkeit · 30. November 2022
Serdal Sardas beim Festakt zum 70. Jahrestag des Betriebsverfassungsgesetzes Anfang November in Berlin
Serdal Sardas beim Festakt zum 70. Jahrestag des Betriebsverfassungsgesetzes Anfang November in Berlin

Angefangen hat es beim Sommergrillen der Jusos Schaumburg in Niedersachsen. Serdal Sardas kam an diesem Tag von einem Bewerbungsgespräch und erzählte den Genoss*innen, dass er als Teamleiter im Amazon-Verteilzentrum in Wunstorf arbeiten wolle. Bei den Jusos stieß die Idee auf wenig Begeisterung, weshalb Sardas halb im Scherz versprach: „Ich fange da an und gründe einen Betriebsrat.“

Natürlich habe er das damals nur so dahingesagt, betont der 32-Jährige heute. Einige Monate danach, „da habe ich schon bei Amazon gearbeitet“, trifft er als Delegierter bei einer Veranstaltung auf Stephan Weil. „Ich stellte mich vor und erwähnte, dass ich bei Amazon arbeite“, erzählt er. Weils Kommentar: „Du, was ihr bei Amazon erst einmal braucht, ist ein Betriebsrat.“

Die Idee, einen Betriebsrat zu gründen

Drei Jahre später ist Sardas Betriebsratsvorsitzender eines neunköpfigen Gremiums. Doch bis dahin ist es ein langer Weg. Denn erst einmal entpuppt sich sein Arbeitgeber, der sich 2019 am Standort niedergelassen hat, während der Corona-Pandemie als durchaus zufriedenstellend: „Die Sicherheitsvorkehrungen waren vorbildlich, wir hatten kaum Infizierte“, sagt Sardas. Für ihn kam der Moment, einen Betriebsrat zu gründen, erst, als einem Kollegen verweigert wurde, langfristig im Frühdienst zu bleiben.

Der alleinerziehende Vater sollte dauerhaft in der Spätschicht arbeiten, die um 15 Uhr beginnt und gegen 23 Uhr endet. Für Sardas war diese Entscheidung der Geschäftsführung nicht nachvollziehbar und schließlich „der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“. Sardas, der in Stadthagen zuhause ist, setzte sich mit verdi in Hannover in Verbindung, erfuhr einige Zeit später, dass einige Kolleg*innen in seinem Betrieb bereits aktiv geworden sind. Man schloss sich zusammen: Die Vorbereitungen zur Betriebsratswahl konnten beginnen.

Einführung in die Demokratie

Widerstand von Seiten der Geschäftsführung ließ nicht auf sich warten. „Als wir für unsere Kandidat*innenliste Werbung machten, fing ein Mitglied der Geschäftsführung alle Mitarbeiter*innen ab und machte Fotos von ihnen, wenn sie Flyer in der Hand hatten“, berichtet Sardas. Das habe viele Beschäftigte eingeschüchtert, auch weil es sich bei einem Großteil der Mitarbeiter*innen um Geflüchtete handelt. „Viele kommen aus Syrien, Somalia, Nigeria oder Eritrea, haben eine Arbeitserlaubnis, einige aber nur einen Geduldetenstatus“.

Für diese Kolleg*innen sei es zudem die erste demokratische Wahl überhaupt gewesen. „Wir mussten sehr viel Vertrauen schaffen. Als wir ein Muster vom Wahlzettel zeigten, fragten einige, wo sie ihren Namen hinschreiben müssen. Wir mussten versichern, dass niemand sieht, wen sie gewählt haben.“ In kleinen Gruppen und einem nachgestellten Wahllokal habe der Wahlvorstand den Kolleg*innen Schritt für Schritt demonstriert, wie eine Wahl in Deutschland abläuft. „Mit so viel Erklärungsbedarf haben wir nicht gerechnet.“

Sardas' Betrieb zählt rund 200 Mitarbeiter*innen. In der Spät- und Nachtschicht arbeiten überwiegend Männer. Im Vorweihnachtsgeschäft, das im November beginnt, steigt die Anzahl der Beschäftigten auf bis zu 300, dann werden zusätzlich Leiharbeitnehmer*innen eingestellt. Die neun Mitglieder des Betriebsrates sprechen sieben Sprachen. Dazu zählen zwei Frauen. Sardas bedauert, dass sich nicht mehr zur Wahl gestellt haben, aber viele hätten sich einfach nicht getraut.

Behinderung durch die Geschäftsführung

Das ist nicht weiter verwunderlich, denn natürlich habe die Geschäftsführung versucht, die Wahlen zu behindern. So wurde auch er während der Gründungsphase kontrolliert. „Immer, wenn ich für den Wahlvorstand Arbeiten erledigt habe, hat sich ein Vorgesetzter meine Arbeitszeiten notiert. Sein Ziel war, zu kontrollieren, ob es Schwankungen gibt, ob ich möglicherweise meine Zeiten falsch angebe und damit nicht mehr vertrauenswürdig bin.“

Doch sie waren vorgewarnt: Ihr Gewerkschaftssekretär hatte ihnen bereits mitgeteilt, dass die meisten Betriebsratsgründungen an vermeintlichem Arbeitszeitbetrug oder falschen Reisekostenabrechnungen scheiterten. „Als ich sah, dass meine Arbeitszeiten notiert wurden, gingen bei mir gleich die Alarmglocken an“, für Sardas kein schönes Gefühl. Im Nachhinein wurde klar, dass auch andere Kolleg*innen „unter Beobachtung standen“.

In Deutschland wird jede sechste Betriebsratswahl behindert. DGB-Chefin Yasmin Fahimi nennt diese Zahl auf einer Festveranstaltung zum 70. Jahrestag des Betriebsverfassungsgesetzes im November dieses Jahres. Die Regierung fordert sie auf, ihr Vorhaben, Betriebsratsbehinderungen als ein so genanntes Offizialdelikt zu ahnden, schnell umzusetzen. Bundeskanzler Olaf Scholz versichert bei eben dieser Veranstaltung, dass die Behinderung demokratischer Mitbestimmung künftig ohne Strafantrag verfolgt werden kann, so sei es bereits im Koalitionsvertrag der Ampel festgeschrieben. Laut Scholz müssen Betriebsräte mit am Tisch sitzen und mitreden können. „Sie sind die Fachleute“, sagt er. Auch Sardas nimmt an diesem Festakt als Redner teil und berichtet von seinen Erfahrungen im neu gegründeten Betriebsrat.  

Kampf um die Arbeitszeit

Der beschäftigt sich aktuell mit dem wichtigen Thema Arbeitszeit, konkret geht es um die Nachtschicht. Sie beginnt um 1 Uhr und endet um 9:30 Uhr. Die Geschäftsführung plant, die Schichtzeit auf zwei Uhr nachts zu verlegen. Es sei aber unmöglich, mit öffentlichen Verkehrsmitteln um zwei Uhr morgens den Arbeitsplatz zu erreichen, weiß Sardas. Schon jetzt gebe es Kolleg*innen, die vor Beginn der Nachtschicht eine Stunde in der Kantine säßen und darauf warteten, ihren Dienst antreten zu können. „Da müssen wir dagegenhalten, das ist nicht zumutbar. Viele Mitarbeiter*innen würden lieber um 0 Uhr beginnen, niemand aber um zwei Uhr. Da die Verlegung der Arbeitszeiten nach Paragraf 87 mitbestimmungspflichtig ist, haben wir gleich Einspruch erhoben“, erklärt Sardas.

Vier Weiterbildungsseminare zum Betriebsratsrecht hat er bereits absolviert. Und er ist froh, dass er so tolle Gewerkschaftssekretäre an seiner Seite hatte, „bei denen ich mir mal einiges von der Seele reden konnte“. Es sei ein enormer Druck gewesen, „der da auf mir und den Kolleg*innen gelastet hat“, sagt er.

Autor*in
Avatar
Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare