Inland

Wie Nahles und Lindner sozialliberale Gemeinsamkeiten suchen

Im Oktober 1969 bildet sich unter Bundeskanzler Willy Brandt die erste Regierung aus SPD und FDP. Fast 50 Jahre später diskutieren die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles und FDP-Chef Christian Lindner Gemeinsamkeiten für eine mögliche Neuauflage dieses Bündnisses.
von Jonas Jordan · 3. April 2019

Es waren die großen Fragen, die der Motor für die erste sozialliberale Bundesregierung im Jahr 1969 waren. Bundeskanzler Willy Brandt wollte „mehr Demokratie wagen“ und erhielt für seine visionäre Ostpolitik zwei Jahre später den Friedensnobelpreis. Vizekanzler und Außenminister Walter Scheel von der FDP sagte: „Es geht um die Entscheidung zwischen Rückschritt und Fortschritt.“ Große Fußstapfen also für Andrea Nahles und Christian Lindner, die heutigen Vorsitzenden von SPD und FDP, die anlässlich des 50. Jubiläums dieses Bündnisses über Gemeinsamkeiten diskutieren.

Nahles profitierte von sozialliberaler Politik

Nahles lobt: „Es war die Lust am Gestalten, die die damalige Koalition ausgezeichnet hat. Mit knappen Mehrheiten haben sie große Projekte umgesetzt.“ Sie nennt Willy Brandts Ostpolitik, aber auch den Aufbruch im Bildungsbereich, von dem sie als katholisches Mädchen in der Eifel profitiert habe. Christian Lindner, geboren 1979, kennt die sozialliberale Koalition nur noch aus Erzählungen. Besonders eingeprägt hat sich bei ihm „der Mut, sich Lebenslügen zu stellen“. Der FDP-Chef fragt daher: „Wo ist dieser Mut zur Gestaltung verloren gegangen?“

Lindner versucht, Gemeinsamkeiten für eine mögliche Neuauflage eines sozialliberalen Bündnisses herauszuarbeiten. Er nennt beispielsweise die Migrationspolitik: „Wir sind beide weltoffener und toleranter als CDU/CSU, aber weniger naiv als Grüne und andere.“ Auch habe die sozialliberale Koalition in Rheinland-Pfalz 1997 bereits einen konkreten Entwurf für ein Einwanderungsgesetz eingebracht. Andrea Nahles stimmt ihrem Kollegen in diesem Punkt zu: „Unsere Linie ist Realismus ohne Ressentiments.“ Dagegen gebe es schwierigere Fragen wie Rentenpolitik, bei denen es weniger Gemeinsamkeiten zwischen SPD und FDP gäbe.

Baum und Däubler-Gmelin fordern Mut

Auch die europapolitischen Vorstellungen der beiden Parteien unterscheiden sich deutlich. Während Lindner die Forderungen der SPD für ein soziales Europa kritisiert, bekräftigt Nahles: „Wir wollen ein Europa, das nicht nur für den Binnenmarkt, sondern auch für die Menschen funktioniert.“ Dazu gehöre, dass in Krisenzeiten nicht an Unterstützung für Menschen gespart werden solle. Nahles nennt beispielsweise die hohe Jugendarbeitslosigkeit in südeuropäischen Ländern wie Spanien und Griechenland in Folge der Finanzkrise. In solchen Fällen bedürfe es künftig einer größeren innereuropäischen Solidarität.

Zwei frühere Parteigranden, die schon in den 70er-Jahren politisch gewirkt haben, ermahnen ihre Parteivorsitzenden zu entschlossenem Handeln, Mut und Kompromissbereitschaft. Gerhart Baum war zunächst Parlamentarischer Staatssekretär, ab 1978 Bundesinnenminister. Der FDP-Politiker sagt: „Wichtig ist, dass man Mut zur Zukunft hat und auch darüber streitet.“ Inzwischen gebe es Gesellschaften, in denen bestimmte Gruppen nicht mehr zueinander fänden. „In einer Welt der Krise muss es Gemeinsamkeiten unter Demokraten geben. Wir müssen uns zusammenraufen und Europa verteidigen“, fordert Baum.

Zugleich sagt er in Richtung seines Parteivorsitzenden Lindner: „Ganz ohne Regeln geht es nicht.“ Der Markt könne es nicht alleine richten. Manchmal sei staatliche Regulierung notwendig, beispielsweise bei der Gestaltung der Digitalisierung. Herta Däubler-Gmelin, von 1972 bis 2009 SPD-Bundestagsabgeordnete und von 1998 bis 2002 Bundesjustizministerin, ist in diesem Punkt der gleichen Meinung wie Baum. Es erfordere Mut, Regeln für die Globalisierung zu schaffen: „Denn es wird nicht ohne Regulierung gehen.“  

Autor*in
Jonas Jordan
Jonas Jordan

ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo

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