Wie München den Flüchtlingsansturm bewältigt
Eigentlich wollte Micky Wenngatz Anfang September in den Urlaub fahren. Doch dann kamen jeden Tag Tausende Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof an. Kurz entschlossen blieb Wenngatz, die auch Vorsitzende des Bündnisses „München ist bunt“ sowie der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF) in Bayern ist, in der Stadt und koordinierte die Flüchtlingshilfe vor Ort.
Die Bilder aus München vor einigen Tagen waren erschreckend: Hunderte Flüchtlinge kampierten am Hauptbahnhof und tausende suchten ein Notquartier. Wie ist die Lage aktuell, in der ersten Oktoberfest-Woche?
Im Moment ist die Lage etwas entspannter. Zu einem regulären Wiesn-Tag kommen im Schnitt 500 000 Menschen nach München, viele davon über den Hauptbahnhof. Viele von ihnen sind zudem alkoholisiert. Die bayerische Staatsregierung und der Oberbürgermeister haben die Risiken für die öffentliche Sicherheit frühzeitig erkannt und entschieden, die Züge, die in den vergangenen Tagen Flüchtlinge nach München gebracht haben, an der Stadt vorbeizuleiten. Zurzeit kommen am Tag noch zwischen 1000 und 1500 Flüchtlinge in München an, die aber sofort weitergeleitet werden.
Das klingt gut, schiebt das Problem ja aber nur auf.
Anliegen von Staatsregierung und Stadt ist, für die Sicherheit der Menschen während des Oktoberfestes zu sorgen. Wenn so viele Menschen aufeinander treffen, kann die Situation für die Sicherheitskräfte unkontrollierbar werden. Dem wurde mit der Umleitung der Züge während des Oktoberfests Rechnung getragen. Aber es ist klar, dass die Anzahl der Flüchtlinge wieder zunehmen wird, wenn die Züge nicht mehr an München vorbeigeleitet werden.
Sie waren dabei als sich die Situation am Hauptbahnhof vor wenigen Tagen immer mehr zuspitzte. Wie haben Sie das Ganze erlebt?
Ich war in der Einsatzzentrale, dem so genannten Infobus, direkt am Münchner Hauptbahnhof eingesetzt und habe den Einsatz der Helferinnen und Helfer und die eingehenden Spenden koordiniert. Durchschnittlich kamen seit dem 31. August täglich 7500 Flüchtlinge am Münchner Hauptbahnhof an. An den Wochenenden lagen die Zahlen deutlich höher mit dem Höhepunkt am 11., 12. und 13. September als etwa 40 000 Menschen ankamen. Die Situation in München war absolut chaotisch. Weder Verwaltung noch Polizei oder Hilfsdienste waren auf solch einen Ansturm vorbereitet. Die freiwilligen Helfer sind deshalb eingesprungen und haben u.a. verschiedene Notunterkünfte personell betreut.
Die Ehrenamtlichen haben also dazu beigetragen, dass die Situation nicht eskaliert?
Der Einsatz war auf jeden Fall beeindruckend. Als zwischen dem 11. und 13. September der Ansturm besonders groß war, sollte die Olympiahalle von der Stadt als weitere Notunterkunft geöffnet werden. Allerdings fehlte es an nahezu allem. Nach einem Facebook- und Twitter-Aufruf haben wir innerhalb weniger Stunden nicht nur die 1000 benötigten Schlafsäcke, sondern weit mehr an Spenden bekommen. Das war großartig. Auch der Bahn konnten wir mithilfe von Spenden helfen.
Wie das?
Wenn Flüchtlinge mit der Bahn an einen anderen Ort gebracht werden, dürfen sie nur dann an Bord gehen, wenn sie mit ausreichend Flüssigkeit und Kohlenhydraten versorgt sind. Mithilfe der Spender konnten wir die Züge mit Wasser, Keksen, Müsliriegeln und ähnlichem ausstatten.
Wie organisiert man so etwas?
Wir freiwilligen Helfer hatten das große Glück, dass uns die Stadt München, zuallererst Oberbürgermeister Dieter Reiter und Sozialdezernentin Brigitte Meier, von Anfang an unterstützt hat. Wir haben einen Infobus als Einsatzzentrale bekommen und wenig später auch zwei Zelte, in denen wir Sachspenden lagern können. Vor allem aber ist es uns gelungen, innerhalb weniger Tage funktionsfähige Strukturen aufzubauen, neben einem Helfer- auch ein Spendenmanagement. Eine wichtige Rolle haben auch die sozialen Medien gespielt.
Inwiefern?
Über die Fabebook-Seite „München ist bunt“ und die Webseite flüchtlingshilfemünchen.de konnten wir in Minutenschnelle auf neue Anforderungen reagieren. Wenn wir etwa geschrieben haben, dass wir dringend Helfer brauchen, waren innerhalb von zwei Stunden viele Menschen vor Ort, um anzupacken. Diese Hilfsbereitschaft hat mich tief beeindruckt. Inzwischen haben wir auch eine Datenbank für Helferinnen und Helfer aufgebaut, sodass wir sie auch direkt anschreiben können, wenn dringend Hilfe benötigt wird.
Nach dem Flüchtlingsansturm der vergangenen Tage hat Münchens Oberbürgermeister scharfe Kritik an den anderen Bundesländern geäußert. Welche Schlüsse sollte der Flüchtlingsgipfel am Donnerstag aus den Vorgängen ziehen?
Vor allem muss die EU endlich ihrer Verpflichtung nachkommen und sich überlegen, wie sie mit den Menschen, die zu uns flüchten, umgehen will. Aus meiner Sicht kann es zum Beispiel nicht beim Dublin-II-Verfahren bleiben. Und was für Europa gilt, gilt auch in Deutschland. Da vermisse ich die Solidarität zwischen den Ländern. Beim Umgang mit den Flüchtlingen sollte auch nach Geschlechtern differenziert werden. Frauen fliehen zum Teil aus anderen Gründen als Männer und erleben ihre Flucht auch anders. Sie werden zum Beispiel während der Flucht diskriminiert oder sind sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Das sollte in der Flüchtlingshilfe stärker berücksichtigt werden.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.