Inland

Wie Millionen Menschen von einer Bürgerversicherung profitieren würden

Millionen Versicherte sind aus der solidarischen Krankenversicherung ausgeschlossen. Das ist ungerecht. Eine Bürgerversicherung – auch in der Pflege – wäre der richtige Weg, diesen Skandal zu ändern.
von Boris Velter · 29. März 2017
Privat oder gesetzlich versichert? Mit der Bürgerversicherung würde sich diese Frage beim Arzt nicht mehr stellen.
Privat oder gesetzlich versichert? Mit der Bürgerversicherung würde sich diese Frage beim Arzt nicht mehr stellen.

Seit mehr als einem Jahrzehnt diskutieren wir – in unterschiedlicher Intensität –  über das Konzept der „Bürgerversicherung“. Es ist davon auszugehen, dass sie im Bundestagswahljahr 2017 im Mittelpunkt der sozialpolitischen Diskussion stehen wird. Warum? Weil sehr viele andere große sozialpolitische Projekte der modernen Sozialdemokratie zumindest angegangen, wenn nicht gar realisiert sind: Darunter fallen zum Beispiel der Mindestlohn, die Entgeltgleichheit, eine Dynamisierung von Leistungen der Pflegeversicherung und auch Detailverbesserungen im Rentensystem.

Warum endet die Solidargemeinschaft bei 90 Prozent?

Im Gesundheitswesen hingegen ist immer noch eine zentrale Frage nicht geklärt: Seit Jahrzehnten sind nun rund 90 Prozent der Bevölkerung Mitglieder bzw. Versicherte in der gesetzlichen, solidarischen Krankenversicherung und erhalten eine – auch im weltweiten Vergleich – sehr umfassende und qualitativ hochwertige Versorgung im Krankheitsfall. Warum endet die Solidargemeinschaft in der Krankenversicherung aber bei 90 Prozent der Bevölkerung? Was ist mit den rund vier Millionen Beamtinnen und Beamten und Pensionärinnen und Pensionären sowie vielen Millionen von Selbständigen?

Beamtinnen und Beamten gewährt der Dienstherr über die Beihilfe eine direkte Kostenbeteiligung an den Behandlungskosten. Darüber hinaus gehende Kosten müssen über eine private Krankenversicherung versichert werden. Dieser Teilkostentarif darf – dank intensiver schwarz-gelber Lobbyarbeit in den 1980er Jahren – nur von der Privaten Krankenversicherung (PKV) und nicht von der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) angeboten werden. Entscheiden sich Beamtinnen und Beamte für eine gesetzliche Krankenversicherung, steht ihnen in der Regel keine Beihilfe zu. Zudem müssen sie den Arbeitgeberanteil des Krankenkassenbeitrages selbst tragen.

Für Beamte ist die gesetzliche Krankenversicherung unattraktiv

De facto gilt damit für Beamtinnen und Beamte eine Versicherungspflicht in der PKV. Denn die Alternative, ein gesetzlicher Krankenversicherungsschutz, ist für sie finanziell unattraktiv. Mit der Konsequenz, dass sie sich in einem System versichern müssen, dessen Versicherungsschutz oft zu Behandlungen führt, die über das medizinisch Notwendige hinausgehen. Denn während in der GKV Patientinnen und Patienten der Grundsatz der evidenzbasierten Medizin schützt, werden bei privat Versicherten auch Behandlungen durchgeführt, deren medizinischer Nutzen fragwürdig ist, ihre Durchführung jedoch lukrativ. In jedem Falle wird ihnen schlicht das Wahlrecht zwischen PKV und GKV verwehrt, ohne dass sich dies sachlich begründen ließe.

Für Selbständige entsteht das „PKV-Gefangenendilemma“ durch die gesetzlich vorgegebene Beitragslogik der GKV. Bei Selbständigen folgt die Beitragshöhe in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht prozentual zum Einkommen wie bei abhängig Beschäftigten oder Rentnerinnen und Rentnern. Hauptberuflich Selbständigen wird derzeit in der GKV grundsätzlich ein Einkommen in Höhe von mindestens 4.350 Euro monatlich (bzw. beim Nachweis niedriger Einnahmen: 2.231,25 Euro monatlich) unterstellt. In der Folge müssen Hunderttausende von Selbständigen weit überproportional hohe Beiträge bezahlen. Es überrascht nicht, dass viele dieser Personen ihre Beiträge nicht (vollständig und regelmäßig) aufbringen (können) und in der Folge durch die extrem hohe Verzugszinslast in die Schuldenfalle geraten. Auch hierdurch werden de facto viele in die PKV gedrängt und zwar in zum Teil abenteuerliche Selbstbehalttarife, um die Beitragslast gering zu halten.

Privatversicherte als Schuldner der Anbieter

Und noch ein alles andere als theoretischer Punkt ist hier anzusprechen: Wer hat mit wem einen Vertrag und steht damit in der Schuld? Denn vielfach politisch unbeachtet, im Einzelfall aber hochdramatisch ist eine weitere Konsequenz unseres geteilten PKV-GKV-Systems mit (Teil-)Kostenerstattung einerseits und Sachleistung andererseits. Gesetzlich Versicherte zahlen ihren Kassenbeitrag und erhalten dadurch einen – durch die Krankenkassen zu garantierenden – Zugang zu allen Leistungen des geregelten Versorgungssystems als Sachleistungen. Sie gehen keine privaten Behandlungsverträge mit Leistungsanbietern ein.

Völlig anders privat Versicherte. Diese müssen nicht nur gegenüber Leistungsanbietern regelmäßig in Vorkasse gehen, sie sind und bleiben auch Schuldner der Anbieter. Es besteht kein Vertragsverhältnis zwischen Ärztin oder Arzt und privater Versicherung. Ob und in welcher Höhe die Versicherung das vorgestreckte Geld (teil-)erstattet, erfährt der Patient bzw. die Patientin erst im Nachhinein. Im Zweifel bleibt er bzw. sie auf den Kosten schlicht sitzen! Dramatisch bis zuweilen lebensgefährlich wird dieser Zusammenhang für Personen ohne oder mit wenig Geld. Diese gehen deswegen vielfach nicht zum Arzt oder zur Ärztin, selbst dann nicht, wenn sie schwer krank sind. Jede Arztpraxis, die Bedürftige kostenfrei versorgt, kennt zahllose dieser Fälle.

Paritätische Finanzierung als Baustein einer Bürgerversicherung

Letztlich werden Millionen von Bürgerinnen und Bürgern vielfach gegen ihren Willen in ein privates Versicherungssystem gedrängt oder diesem zugewiesen. Es verwundert, dass dieser sozial- wie gesellschaftspolitische Skandal so lange Bestand hat. Aufzulösen ist er durch eine Bürgerversicherung.

Neben dem gerechten Zugang zum Gesundheitswesen ist mit der Bürgerversicherung auch die Frage der gerechten Mittelverteilung zwischen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verknüpft. Die paritätische Finanzierung der Krankenversicherungsbeiträge mit der jeweils hälftigen Aufbringung der Beiträge durch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber wurde im Jahr 1951 eingeführt und hatte lange Bestand.

Durch das Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz (GKV-FQWG) im Jahr 2015 wurde der arbeitgeberseitige Beitragssatz gesetzlich dauerhaft auf 7,3 Prozent festgeschrieben. Damit wird die ehemals paritätische Finanzierung systematisch unausweichlich immer weiter zu Ungunsten der Beschäftigten und Rentnerinnen und Rentner verschoben.

Experten rechnen für die kommenden Jahre mit höheren Beiträgen

Schon für die kommenden Jahre rechnen alle Expertinnen und Experten mit steigenden Ausgaben und folgend höheren Beiträgen. Die Mehrbelastungen müssen gemäß aktueller Rechtslage ausschließlich von den Mitgliedern getragen werden. Vor diesem Hintergrund ist eine Rückkehr zur paritätischen Finanzierung dringend geboten, um die Lasten zwischen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern dauerhaft wieder gerecht zu verteilen. Und auch die gesetzliche Rentenversicherung muss wieder den hälftigen Beitrag zur Krankenversicherung der Rentnerinnen und Rentner tragen.

Auch wenn im Kontext der Diskussionen rund um ein gerechteres Gesundheits(versicherungs)system immer wieder auch Fragen der Beitragsbemessung sowie der Verbeitragung von verschiedenen Einkommensarten angesprochen werden – diese sind nicht Kern einer Bürgerversicherung im Sinne einer Versicherung, zu der alle Bürgerinnen und Bürger Zugang haben. Fragen der solidarischen Umverteilung der Beitragslasten und deren Grenzen innerhalb des Versicherungssystems sind unabhängig vom Zugang zu debattieren.

Die Bürgerversicherung ist eine Frage der Gerechtigkeit

Die Ungleichbehandlung von Beamtinnen und Beamten sowie Selbstständigen zeigt: Faktisch werden Millionen Versicherte vom Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen, ohne dass sich hierfür ein sachlicher Grund erschließt. Die Bürgerversicherung ist nicht zuletzt dadurch im Kern eine Frage der Gerechtigkeit.

Ihre Einführung wird nicht, wie es oft beschworen wird, an juristischen Hürden scheitern. Ja, sie wird uns vor Herausforderungen stellen, die auch verfassungsrechtliche Fragen aufwerfen, und ja, daher wird sie auch langen Atem verlangen und ihre finale Umsetzung im Zweifelsfall mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen.

Aber: Vor allem wird sie Mut von den progressiven Parteien verlangen. Mut, sich mit starken Interessen anzulegen, deren unternehmerische Existenz davon abhängt, dass sich ein Teil der Bevölkerung privat versichern muss. Mut, sich den ökonomischen und juristischen Hürden zu stellen und diese zu lösen; womöglich auch höchstrichterlich.

Diesen Mut gilt es aufzubringen. Denn trotz – oder wegen – aller Hürden auf dem Weg dorthin, ist die Bürgerversicherung die Antwort auf die Frage nach mehr Gerechtigkeit und damit das nächste große sozialdemokratische Projekt.

Autor*in
Boris Velter

ist Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung und Bundesvorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Gesundheitswesen.

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