Inland

Wie gerecht ist das Leben in Deutschland?

Gerechtigkeit ist ein schöner Begriff, doch ihn mit Inhalt zu füllen nicht immer einfach. Oftmals scheitert es an unterschiedlichen Definitionen. Das zeigte eine Diskussion im Rahmen des Grundrechteforums der Friedrich-Ebert-Stiftung eindrucksvoll.
von Renate Faerber-Husemann · 24. Juni 2015

Kurt Beck, Vorsitzender der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), traf gleich zu Beginn der Veranstaltung zum Grundwerteforum Gerechtigkeit in Bonn den Kern des Problems: „Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sagt, es gehe ungerecht zu. Mehr als zwei Drittel sagen, das Land sei in den letzten Jahren ungerechter geworden.“ Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität, das sind die Themen der drei Grundwerteforen der FES und die Begriffe gehören seit der französischen Revolution untrennbar zusammen. „Dafür kämpft die Sozialdemokratie seit 150 Jahren, nicht ohne Erfolg“, so Beck. In den Grundwerteforen soll nun herausgearbeitet werden, wo es Gemeinsamkeiten, wo es Unterschiede gibt im Verständnis der einzelnen Parteien. Es diskutierten temperamentvoll Jens Spahn (CDU), Andre Brie (Die Linke) und Thorsten Schäfer-Gümbel, stellvertretender SPD-Vorsitzender.

Dass es bei allen Unterschieden im Detail ein gemeinsames Grundverständnis gab, mochte daran liegen, dass Spahn und Brie nicht gerade typische Vertreter ihrer Parteien sind. Brie zitiert lieber Habermas als das Parteiprogramm der Linken, Spahn, demnächst Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, denkt mit dem eigenen Kopf und gehört nicht zu den Hardlinern seiner Partei.

Nachholbedarf in Sachen Gerechtigkeit

Doch ganz eindeutig gab Thorsten Schäfer-Gümbel den Ton an. Einer seiner Hauptpunkte: Es gibt nicht nur die gefühlte Ungerechtigkeit sondern ganz reale Ungerechtigkeiten: Die Lebenserwartung hängt mit dem sozialen Status zusammen. Kein Mensch ist in der Arbeitswelt 500 Mal mehr wert als ein anderer. Bildungs- und Chancengerechtigkeit, also Durchlässigkeit, ist der Weg zu einer gerechten Gesellschaft. Und da sieht Deutschland weltweit schlecht aus. Und weiter: „Die Würde des Menschen ist keine Frage des Passes. Ungerecht ist die völlig ungerechte Besteuerung von Arbeit und Kapital. Verteilungsgerechtigkeit muss auf der Tagesordnung bleiben. Die zunehmende Ungleichheit verhindert Wachstum“, so Schäfer-Gümbel.

Andre Brie, Landtagsabgeordneter in Mecklenburg-Vorpommern, gab einen Einblick in die Realität, wie er sie an der Ostsee erlebt: Bildungsgerechtigkeit – nach den Worten aller Diskutanten der Königsweg zu mehr Gerechtigkeit – hänge von Geld und sozialem Status ab. „Hartz IV wird vererbt. Alkoholismus wird oft vererbt. Die Kinder fallen in das Schicksal der Eltern. Menschen, die sozial benachteiligt sind, nehmen nicht mehr Teil am politischen Leben“, erklärte Brie. Zu dieser Gruppe von Menschen zählten auch Wähler von SPD und Linke, mahnte Brie. „Man muss sich um diese Menschen kulturell und sozial kümmern.“ Wenig später zitierte er aus einer Studie der Hilfsorganisation Oxfam, nach der die Ungleichheit und damit Ungerechtigkeit weltweit wächst: Im Jahr 2016 wird ein Prozent der Weltbevölkerung die Hälfte des gesamten Wohlstands besitzen.

Gerechtigkeit ist keine Gleichmacherei

Für Jens Spahn sind es vor allem die Folgen der Finanz- beziehungsweise Bankenkrise, die zu dem Gefühl beigetragen haben, dass es nicht gerecht zugeht. „Es gibt dieses Unbehagen, diese gefühlte Ungerechtigkeit, obwohl ein großer Teil der Bevölkerung mit der persönlichen Situation zufrieden ist.“ Gerechtigkeit bedeutet für ihn nicht, „alles gleich zu machen. Menschen sind verschieden“, so Spahn weiter. Während für Brie und Schäfer-Gümbel die Verteilungsfrage – von der Erbschaftssteuer bis zur Besteuerung von Kapital und Arbeit – nicht gut gelöst, also ungerecht, ist, entgegnete Spahn: „Die Zinsen sind niedrig, die Löhne steigen.“ Dennoch ließ auch er durchblicken, dass er zum Beispiel beim Thema Erbschaftssteuer eher auf Seiten derer stehe, die das jetzige System für ungerecht halten.

Letztlich konnte auch dieses Grundwerteforum nicht die Frage danach beantworten, was Gerechtigkeit ist. Jede Partei setzt andere Schwerpunkte, verspricht Gerechtigkeit, meint aber – so die Veranstalter der FES - „damit nicht immer das gleiche.“ Man spricht von Chancengerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, von Geschlechtergerechtigkeit, von Leistungsgerechtigkeit, von Entfaltungsgerechtigkeit, von Bildungsgerechtigkeit, von Verteilungsgerechtigkeit. Politischen Streit gab es nicht über die Begriffe, sondern darüber, wie sie durch politisches Handeln mit Leben zu füllen wären. Die FES zitiert dazu Erhard Eppler: „Die absolute, über jeden Zweifel erhabene Gerechtigkeit ist Menschen nicht zugänglich.“

Autor*in
Renate Faerber-Husemann

(† 2023) war freie Journalistin in Bonn und Erhard-Eppler-Biografin.

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