Inland

Wie Fluchtgeschichten Thema im Schulunterricht werden

Kulturelle Verflechtungen zwischen Europa und dem Nahen Osten gibt es viele, sie werden aber nur selten zum Thema gemacht. Spezielle Lernmaterialien sollen dies nun ändern und für gegenseitiges Verständnis und Interesse werben.
von Tamara Rösch · 3. April 2019

„Wenige Jugendliche wissen etwas über den Einfluss islamischer Kultur auf Europa. Das finde ich erschreckend“, sagt die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli (SPD). „Fluchtpunkte. Bewegte Lebensgeschichten zwischen Europa und Nahost“ heißen die kostenfreien Arbeitsblätter für Jugendliche ab 14 Jahren. Präsentiert werden sieben Biografien von Menschen, die verschiedene Fluchterfahrungen gemacht haben. Besonderes Augenmerk liegt auf Fluchtgeschichten aus Europa in den Nahen Osten und umgekehrt.

Rückbezug auf das Bekannte

„Die Verflechtungen zwischen Europa und dem Nahen Osten sind speziell“, sagt Saba-Nur Cheema von der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main. „Sie zu thematisieren, ist eine Herausforderung. Gerade in Zeiten, in denen der Rechtsextremismus zunimmt.“ Trotz der Verflechtungen, so Cheema, beobachte man gerade an den Schulen einen Rückzug der Schüler in die eigenen Traditionen und Kulturen. „Von Globalisierung und Digitalisierung sind viele Jugendliche überfordert. Der Rückzug in das Bekannte dient als Schutz.“

Sawsan Chebli kann die Angst der Jugendlichen nachvollziehen: „Wir leben in einer Zeit voller Umbrüche. Nichts ist selbstverständlich. Man hat Angst, etwas zu verlieren, was man liebgewonnen hat.“ Doch diese Umbrüche, so Chebli, seien normal. Es gebe sie in jeder Generation.

Trotz Verständnis für die Angst der Jugendlichen findet Chebli, dass man Kulturen und Traditionen nicht ohne ihre Verflechtungen mit anderen betrachten kann: „Viele verstehen Kultur als monolithisch, gegen Vielfalt wird angekämpft. Das halte ich für verrückt und realitätsfremd.“ Jedes Leben sei von Diversität sowie kulturellen und historischen Überlappungen geprägt. „Das muss man permanent predigen“, sagt Chebli.

Neue Perspektiven durch Lernen mit Biografien

Marina Chernivsky vom Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment sieht bei den Lernmaterialien Potenzial: „Sie aktualisieren die Antisemitismusdebatte an Schulen, indem sie ebenso auf antimuslimischen Rassismus aufmerksam machen.“ Außerdem sei es den Jugendlichen mit ihren verschiedenen Lebensgeschichten möglich, sich mit den Biografien zu identifizieren. Das Leben anderer Menschen in einen Lernprozess einzubinden, hält Chernivsky für „sinnstiftend und bedeutsam“.

Auch Danna Bader, eine der Autorinnen der Lernmaterialien, ist der Meinung, das sensible Thema der Flucht am besten mit Biografien anschaulich machen zu können. In einer integrativen Schule wurden die Lernmaterialien bereits getestet. Baders Erfahrungen: „Ein Schüler war stolz, weil die Fluchtgeschichte eines Mädchens mit Kopftuch behandelt wurde. So hat er sich und seinen kulturellen Hintergrund im deutschen Schulsystem zum ersten Mal wiedererkennt.“ Sawsan Chebli begrüßt die Entwicklung, da sie „mehr Verständnis jenseits des eigenen Blickes“ schafft.

Autor*in
Tamara Rösch

studiert Sozialwissenschaften und war im Frühjahr 2019 Praktikantin beim vorwärts-Verlag.

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