Wie die SPD Hartz IV erfolgreich reformieren kann
Dirk Bleicker
Es schmerzt immer noch. Die Debatte vor nunmehr rund 15 Jahren hat tiefe Spuren in der wirtschaftspolitischen Geschichte der SPD hinterlassen. Immer noch reicht es, die Begriffe "Agenda 2010" und "Hartz IV" nur zu erwähnen, um heftigen Streit innerhalb der SPD auszulösen und nicht nur dort. Während die einen in den Sozialreformen jener Zeit die Wurzeln des derzeitigen Beschäftigtenbooms sehen, bestreiten andere jede positive Wirkung. Neuere ökonomische Untersuchungen von Krebs und Scheffel sowie Dustmann und anderen ziehen etwa aus unterschiedlichen Gründen in Zweifel, dass es überhaupt nennenswert positive Beschäftigungswirkungen von Hartz IV gibt. Zumindest erscheint die neue Beschäftigung tendenziell als prekär.
Kein Profil
Dieser Streit lähmt die SPD und trägt dazu bei, dass die SPD im Lauf der Zeit nahezu jedes wirtschaftspolitische Profil verloren hat. Es ist Zeit, sich aus dieser Lähmung zu lösen. Helfen kann dabei ein konstruktiver Diskurs über eine Reform von Hartz IV, der in glaubwürdiger Weise deutlich macht, dass die SPD Langzeitarbeitslosigkeit wieder als primär soziales Schicksal ansieht und weniger als Ausdruck selbst verschuldeten Fehlverhaltens. Damit rücken Aspekte des Förderns bzw. des Überwindens persönlicher Hindernisse zur Arbeitsaufnahme in den Vordergrund. Das Ausüben von Druck tritt hingegen in den Hintergrund. Ganz generell bedeutet dies, dass ohnehin sehr aufwendige Kontroll- und Sanktionsmechanismen zurückgenommen und die persönliche Betreuung ausgebaut werden sollten.
Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre, die Bedingungen für den Bezug von Hartz IV grundsätzlich darauf zu reduzieren, dass man mindestens zwölf Monate arbeitslos gemeldet sein und auf dem Arbeitsmarkt zur Vermittlung zur Verfügung stehen muss. Das entlastet die Arbeitsmarktbehörden von kostspieligen und immer wieder rechtlich strittigen Kontrollen. Die so eingesparten Gelder könnten für bessere individuelle Förderung der Arbeitslosen verwendet werden.
Weniger Streitfälle
Mit dieser Regelung stünden sich Arbeitslose, die über Jahre in Beschäftigung waren und möglicherweise finanzielle Rücklagen gebildet haben, besser als bisher. Bislang wird schließlich nur ein Schonvermögen von der Anrechnung ausgenommen.
Mit dieser Regelung würde auch das Einkommen von anderen Haushaltsangehörigen keine Rolle mehr spielen. Damit hätten sich viele Streitfälle erledigt. Auf diese Weise würden auch Menschen in den Genuss von Hartz IV kommen, deren Haushaltseinkommen derzeit über dem zulässigen Wert läge. Dies kann als Prämie für das Einzahlen in die Arbeitslosenversicherung gesehen werden.
Schwache Verhandlungsposition
Weiterer Reformbedarf besteht im Hinblick auf das Vorgehen, mit dem die Regelsätze im Lauf der Zeit angepasst werden. Bislang richten sich die Veränderungen nach der Inflationsentwicklung für Haushalte mit niedrigem Einkommen. Man betreibt also eine Art Kaufkraftsicherung. Auf diese Weise entkoppelt man allerdings die Bezieher von Hartz IV von der allgemeinen Einkommensentwicklung. Schließlich sind die Realeinkommen im Durchschnitt immer noch gestiegen. Hartz-IV-Empfänger bekommen folglich vom Wohlstandszuwachs der Gesamtwirtschaft in der Regel nichts ab.
Eine Konsequenz ist, dass sie in der Einkommensverteilung immer weiter zurückfallen. Die derzeitige Konstruktion von Hartz IV sorgt also automatisch dafür, dass die Ungleichheit der Haushaltseinkommen in Deutschland immer größer wird. Zugleich steigt die soziale Fallhöhe für all jene, die über einen längeren Zeitraum arbeitslos sind, denn der Kaufkraftverlust durch Arbeitslosigkeit nimmt immer weiter zu. Dies dürfte viele Menschen gerade in prekären Beschäftigungsverhältnissen verunsichern. Es schwächt zudem ihre Verhandlungsposition mit Blick auf höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, es verfestigt somit ihre prekäre Lage.
Reform ist möglich
Ist dies wirtschaftspolitisch so gewollt? Und ist dies mit sozialdemokratischen Vorstellungen von Solidarität vereinbar? Wenn nicht, sollte die Anpassungsregel rasch geändert werden. Denkbar wäre, sie an die Entwicklung der Mindestlöhne anzukoppeln. Dann könnten auch Langzeitarbeitslose am Wohlstandszuwachs teilhaben und zugleich bliebe der Abstand zu den Löhnen von Beschäftigten und damit der Anreiz zur Arbeitsaufnahme gewahrt.
Eine grundlegende Reform von Hartz IV ist also möglich und nötig. Sie würde auch dazu beitragen, die tiefgreifende Verunsicherung breiter Bevölkerungsschichten zu mindern. Nicht zuletzt würde sie manchen Streit innerhalb der SPD befrieden.
ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Duisburg-Essen. Er gründete und war von 2005 bis 2019 wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung.