Wie die AfD die Opfer der Berlin-Attacke instrumentalisiert
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Die Tat war gerade eine Stunde alt, der später wieder auf freien Fuß gesetzte erste Tatverdächtige noch auf der Flucht, da hatte Marcus Pretzell die Verantwortliche für die tödliche Attacke auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche schon gefunden. „Es sind Merkels Tote!“ ließ der Vorsitzender der AfD in Nordrhein-Westfalen seine knapp 6.000 Follower auf Twitter wissen. Zu einem Zeitpunkt, an dem weder geklärt war, ob es sich bei dem Vorfall um einen Unfall oder einen gezielten Anschlag handelt, noch, wer hinter dem Steuer des Lkw gesessen hatte und ob und wenn ja warum er oder sie das Fahrzeug mitten in die Menge gesteuert hatte.
Die AfD und der Tabubruch
Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. „Ekelhaft“ oder „Widerlich“ waren noch die harmloseren Kommentare, mit denen sich andere User über die politische Instrumentalisierung der Opfer von Berlin verwahrten. Hunderte beschwerten sich binnen kurzer Zeit über den „unmöglichen und abscheulichen Tweet“ Pretzells, wie ein Nutzer stellvertretend für viele feststellte. Allein: Der Satz war in der Welt und mit jeder Reaktion darauf erweiterte sich die Reichweite seines kalkuliert tabubrechenden Inhalts. Es ist, als hätten AfD und weiter rechts stehende Kreise nur auf einen Anlass gewartet, um loszuschlagen.
Pretzells Vorgehen folgt einer Masche, derer sich Mitglieder der AfD von der Basis bis zur Führungsriege der Partei um Frauke Petry oder Alexander Gauland immer wieder gern bedienen. Sie preschen mit einer Aussage vor – in vollem Bewusstsein darüber, sich mit dieser für eine seriöse Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Anlass zu disqualifizieren – um im trüben Brackwasser rechter bis rechtsextremer Kreise nach willfäriger Beute zu fischen. Dort also, wo jeder nach Deutschland geflüchtete Mensch pauschal ein von Angela Merkel persönlich eingeladener „Asylforderer“ ist. Wo Ermittlungen und Fakten nur stören, weil sie im schlimmsten Fall das eigene, auf Vorurteile gebaute Weltbild ins Wanken bringen.
Mit Pegida auf einer Stufe
Petry-Ehemann Pretzell spielt diese Klaviatur bewusst. Nur unwesentlich später war auf der Facebook-Seite des offiziell „islamkritischen“ Pegida-Bündnisses um den mehrfach verurteilten Lutz Bachmann zu lesen: „Na Merkel, biste stolz auf Deine Kumpels in Berlin?“. Auch dieser Post zu einer Zeit, als weder die Nationalität des Lkw-Fahrers sicher feststand, noch klar war, warum er oder sie das Fahrzeug in die Menge auf dem Berliner Breitscheidplatz gesteuert hatte. „Nichts wissen, alles behaupten“, so die Prämisse der Rechtsausleger. Wohlwissend, dass in den sozialen Netzwerken mit einem Klick Gerüchte zu Fakten, Fiktionen zu Realitäten, Lügen zu (gefühlten) Wahrheiten werden.
Der Vorgang zeigt: „Postfaktisch“ ist nicht ohne Grund zum Wort des Jahres 2016 gekürt worden. Beim nächsten Intonieren der unsäglichen „Lügenpresse“-Rufe sollten Pretzell, Pegida und Co den Finger jedoch besser auf sich selbst richten anstatt auf andere zu zeigen. Ihre eigene „Informationspolitik“ dient nämlich mitnichten der Wahrheitsfindung oder gar der Aufklärung. Pretzell, Petry, Gauland und Co wollen aufstacheln, spalten, hetzen.
Polizei kündigt Überprüfung an
Objektivität, Differenzierung oder gar Recherche - wie sie derzeit von einem Großteil der deutschen Medien praktiziert werden - stören da nur.
Update Am Dienstagmorgen kündigte die Polizei München an, den Tweet von Marcus Pretzell straftrechtlich prüfen zu lassen. Wir haben uns vor diesem Hintergrund dazu entschlossen, den zunächst im Artikel veröffentlichten Tweet zu löschen.