Wie Deutschland von der „Flüchtlingskrise“ profitieren kann
„Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg“ ist ein Spruch, der seit Jahrzehnten in Deutschland umhergeistert. Im vergangenen Jahr sind rund eine Million Menschen nach Deutschland gekommen – und das alte Vorurteil von der zunehmenden Konkurrenz für einheimische Arbeitnehmer hat wieder Konjunktur. Holger Bonin vom „Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung“ setzt auf Fakten in der Diskussion: Deutschland könne von den Zuwanderern profitieren, sagt er beim „Wirtschaftsgespräch am Tiergarten“ in Berlin.
Erfahrung statt Prognosen
Es sei zwar schwierig, Voraussagen zu treffen, wie sich die humanitäre Zuwanderung in den kommenden Jahren entwickeln würde. Auch die Volkswirte seien sich „unsicher“ angesichts der „historisch einmaligen Herausforderung“, vor der Deutschland jetzt stünde. „Eine Rechnung mit vielen, vielen Unbekannten“, sagt Bonin. Allerdings zeige die Erfahrung, welche positiven Effekte Zuwanderung haben könne.
Der Arbeitsmarkt in Deutschland, so der Wirtschaftsexperte, sei flexibel genug, um eine große Anzahl an Migranten aufzunehmen. Beispiele aus den USA oder der Türkei zeigten, dass Einwanderung keine negativen Effekte auf die Löhne im Land habe. Auch für die Arbeitslosenquote sieht Bonin angesichts der aktuellen Lage keine Probleme durch die „humanitäre Zuwanderung“.
Wohnungen und Bildung
„Klaren Handlungsbedarf“ sieht der Wirtschaftsprofessor von der Universität Kassel jedoch beim Wohnungsmarkt. Dieser sei weniger flexibel als der Arbeitsmarkt, weswegen Investitionen in neuen Wohnraum dringend nötig seien.
Ob sich für den Staatshaushalt ein positiver Effekt durch die Zuwanderung ergibt, hänge wesentlich von der beruflichen Qualifizierung der neuen Bürger ab, erklärt Bonin. Es dürfe nicht sein, dass die Migranten langfristig in schlecht bezahlten Jobs verblieben – dies sei ein Risiko für den Fiskus. Jetzt in die Bildung der Geflüchteten zu investieren, sorge dagegen in Zukunft für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen. Nach anfänglichen Kosten könnten für den Staat langfristig Gewinne erwartet werden.
Keine Obergrenze, keine Residenzpflicht
Bonin findet, anstatt über die Höhe der Flüchtlingszahlen zu diskutieren, sollte die Politik sich „über die demografische Alterung mehr Sorgen machen als um die fiskalischen Kosten der humanitären Zuwanderung.“ Die rund eine Million Flüchtlinge aus dem Vorjahr hätten so gut wie keine Auswirkung auf die Altersstruktur der Gesellschaft. Daran würde sich voraussichtlich auch in Zukunft nicht viel ändern.
Es gelte, die Zuwanderer nachhaltig in die hiesige Wirtschaft zu integrieren. Dazu brauche es „positive Anreize“ wie schnelle Rechtssicherheit in den Asylverfahren. Die Einführung einer Residenzpflicht für anerkannte Flüchtlinge lehnt Bonin als „negativen Anreiz“ ab. Viel wichtiger sei die „kontinuierliche Betreuung“ der Migranten auf ihrem Weg in die deutsche Arbeitswelt.
Was müssen Deutschland und EU tun?
Die EU-Mitgliedsstaaten sollten administrativ und finanziell mehr Verantwortung nach Brüssel verlagern, europaweit solle der gleiche Asylstandard gelten, fordert Bonin. Weil am „Schlepperwesen“ eine finanzkräftige „Industrie“ hänge, wünscht sich der Ökonom, die Flucht nach Europa durch „humanitäre Visa“ zu legalisieren. Das Geld, das sich die Geflüchteten dadurch sparten, könne in die „Startkosten“ der Integration gesteckt werden.
Wenn sich die osteuropäischen Staaten weiterhin weigerten, Kriegsflüchtlinge aufzunehmen, sagt Bonin, sollten aufnahmewillige Länder wie Deutschland einen finanziellen Ausgleich erhalten. Auch innerhalb der Bundesrepublik fordert Bonin eine gerechte Verteilung der Kosten. „Wenn Migration fair gestaltet wird“, heißt es in seiner Studie, „profitieren Deutschland, Migranten und Herkunftsländer gleichermaßen“.
ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.