Inland

Wer Wahlen ignoriert, wählt Unfreiheit

von Friedrich Schorlemmer · 26. September 2014
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Die niedrige Wahlbeteiligung in Ostdeutschland erschüttert Friedrich Schorlemmer, der schon in der DDR für Pluralismus kämpfte. Auf vorwärts.de fordert er mehr Einsatz für die Demokratie und meint damit auch Politiker.

„Was soll diese ganze Wählerei?“, rief mir in einer Diskussion mal jemand zu. Wer so fragt, macht Demokratie verächtlich. Wahlen sind zwar auch Werbefeldzüge um Mehrheiten und vor Wahlen wird häufig mehr versprochen als man halten kann. Aber mitmachen ist allemal besser als mitmeckern, und nicht zu wählen ist ein ziemlich absichtlicher Anschlag auf die Demokratie.

Freie Wahlen sind die unerlässliche Bedingung für das Auswählen, das Abwählen oder das Wiederwählen. Dabei spielen Erfahrungen mit politisch handelnden Personen eine Rolle sowie Sympathien für unterschiedliche Temperamente, rhetorische Begabungen und die Ausstrahlung der Politiker.

Lebhafte Demokratie gefordert

Aber wer den Weg zum Wahllokal nicht findet, den nenne ich maulfaul, denkfaul und entscheidungsfaul. Wenigstens das muss man schaffen! Es geht darum hinzusehen, was wer warum wie für wen will oder nicht will. Und dann, den gewählten Abgeordneten oder Entscheidungsträgern auf die Finger zu sehen, an Diskussionen teilzunehmen oder selber welche anzuzetteln, Streitkultur einzufordern und einzuüben. All das macht die Lebendigkeit der Demokratie aus.

Demokratie-Abstinenz ist einer der Sargnägel für unsere Freiheit. Selbstgerecht, abwertend, enttäuscht oder resigniert sind all diejenigen, die bei Wahlen zuhause bleiben und sich dabei sogar noch gut finden und fühlen, weil man so ja für nichts verantwortlich wäre. Sie erinnern sich wohl nicht, wie entwürdigend es war, zu Wahlen genötigt zu werden, die gar keine waren, und wie erniedrigend es war, dann an den 98,98 Prozent Zustimmung beteiligt gewesen zu sein. Wer jetzt Wahlverweigerer wird, dem wünsche ich einfach die Kandidaten der „Nationalen Front“ und diese Wahlfarce wieder an den Hals!

Nur fünfzig Prozent Wahlbeteiligung sind ein Alarmsignal, ja eine Schande! Wo man bis vor 25 Jahren zu feige war, den sogenannten Wahlzettel durchzustreichen, ist man in der Freiheit zu faul, den echten Wahlzettel auszufüllen.

Nährboden für Rechtspopulisten

Zugleich müssen sich alle fragen, denen unsere Demokratie am Herzen liegt, wo der eigene Schuldanteil liegt – durch Parteiengeschacher, Abgehobenheit, Politgezänk, durch Übersehen der sozialen, bildungspolitischen, medizinischen und kulturellen Konflikte. Wer sich nicht um Identitätsstiftung, um regionale Besonderheiten müht, muss sich nicht wundern, wenn Nationales bis Nationalistisches wieder hochkommt. Und wo bleibt das änderungsbereite Mitgefühl mit denen, die sich in unserer Gesellschaft als Verlierer erleben? Wir dürfen uns nicht wundern, dass in diese Lücke allerlei politische Piraterie einbricht: rechtspopulistische Demagogie, vermeintliche Werte und nationales Ressentiment!

Es darf nicht übersehen werden, warum solche „Alternativen“ wie Pilze aus dem Boden schießen. Manche erweisen sich sehr bald als ziemlich madig. Doch es geht darum, dem Geflecht darunter zu Leibe zu rücken. Mit überzeugender Politik. Mit erkennbarem Profil. Mit glaubwürdiger Ausstrahlung und Praxis.

Es ist ein Privileg wählen zu dürfen, das wir uns nicht selber entziehen sollten. Zugleich müssen wir möglichst viele Nichtwähler wieder zurückgewinnen.

Autor*in
Friedrich Schorlemmer

ist evangelischer Theologe, Bürgerrechtler und Mitglied der SPD. In der DDR war er in der Opposition aktiv. Schorlemmer ist Gründungsmitglied des Instituts Solidarische Moderne und engagiert sich für das globalisierungskritische Netzwerk attac.

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