Und das mediale Sommerloch füllte wieder einmal die Beschwörung des Fachkräftemangels. Die Forderungen und Vorschläge für die Erleichterung und Gestaltung von Zuwanderungen reißen nicht ab. Tatsächlich gibt es für einzelne Regionen, Betriebe und Arbeitsplätze einen zunehmenden Mangel an Fachkräften - zum Teil auch hausgemacht wegen unzureichender eigener Aus- und Weiterbildung sowie einer Personalentwicklungspolitik.
Andererseits suchen weit über 4 Millionen Menschen nach Arbeit und viele Jugendliche aus wirtschaftlich schwachen Regionen nach einer Ausbildung mit beruflicher Zukunft. Annähernd 7 Millionen Arbeitnehmer müssen am Rande und unter dem Existenzminimum in Niedriglohnsektoren arbeiten - darunter auch viele qualifizierte Fachkräfte.
Gefahren für das Wirtschaftswachstum
Jegliche Euphorie über das Wirtschaftswachstum ist fehl am Platz. Die Ursachen für die weltweiten Finanzkrisen sind noch längst nicht behoben: Im Ungewissen ist nach wie vor, in welchem
Maße die gigantischen Rettungsschirme für die Finanzbranche, die notleidende Wirtschaftskonzerne und überschuldete Mitgliedsländer des Euroraumes in Anspruch genommen werden müssen - vor allem,
welche Rückwirkungen dies für die finanzielle und wirtschaftliche Entwicklung Europas und der Bundesrepublik haben wird.
Ebenso müssen sich die gerade in der Europäischen Union beschlossenen neuen Aufsichtsgremien für die Finanzbranche erst etablieren und bewähren. Die Globalisierung der Finanzmärkte macht zudem
eine Unterstützung durch ausreichende Regulierung und Aufsicht auf weltweiter Ebene, allen voran in den USA, erforderlich. Dies ist allerdings in weiter Ferne.
Spar- und Kürzungsmaßnahmen mindern wirtschaftliche Erholung
Die zum Abbau der gigantischen Schuldenberge in den Mitgliedsländern der EU eingeleiteten Spar- und Kürzungsmaßnahmen wirken der wirtschaftlichen Erholung entgegen und verstärken die
gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Einen kleinen Vorgeschmack darauf haben die Generalstreiks in Griechenland gegen die Kürzungen im Sozialbereich gegeben.
Derzeit wird das öffentliche Leben in Frankreich durch erbitterten Widerstand großer Teile der Bevölkerung gegen die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters im öffentlichen Dienst auf 62 Jahr erschüttert. Auch in der Bundesrepublik stehen erhebliche Proteste gegen die ungerechte Kürzungspolitik der Bundesregierung von 80 Mrd. Euro über vier Jahre zu Lasten der Arbeitslosen, Familien und Alleinerziehenden sowie gegen die "Rente mit 67" bevor.
Gerechte Beteiligung der Arbeitnehmer
Bundesregierung und Wirtschaft wären gut beraten, den "Schulterschluss" mit den Gewerkschaften, wie bei dem kurzfristigen Krisenmanagement mit seinem gigantischen Finanzvolumen, auch bei
der nachhaltigen Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise zu suchen.
Die Arbeitnehmer müssen einen fairen Anteil an dem wirtschaftlichen Aufschwung erhalten. Dies gilt sowohl für die tarifliche und betriebliche Lohnpolitik wie für die Arbeitsbedingungen und die betrieblichen Sozialleistungen. Die Arbeitnehmer haben einen maßgeblichen Anteil daran, dass die Krise in der Bundesrepublik besser und schneller bewältigt werden konnte als in anderen vergleichbaren Ländern innerhalb und außerhalb der EU. Trotz eines überdurchschnittlich hohen Wirtschaftseinbruchs - vor allem in den exportabhängigen Branchen - konnten der Rückgang der Beschäftigung und der Anstieg der Arbeitslosigkeit in engen Grenzen gehalten werden.
Fairness bei Tarifpolitik
Ausschlaggebend hierfür waren die massive Ausdehnung der Kurzarbeit und der Abbau von Arbeitszeitkonten. Im Krisenjahr 2009 stieg die Zahl der Kurzarbeiter auf 1,5 Millionen und
bewahrte etwa eine halbe Million Arbeitnehmer vor der Arbeitslosigkeit. Die offizielle Rechnung lautet: Von den etwa 11 Mrd. Euro Kosten der Kurzarbeit haben Beitrags- und Steuerzahler 43 Prozent
übernommen, die Arbeitgeber 36 Prozent und die Arbeitnehmer 21 Prozent.
Allerdings sieht die tatsächliche Verteilung der Lasten etwas anders aus: Von den 43 Prozent für die Finanzierung der Kurzarbeit 2009, die von der Bundesagentur für Arbeit geleistet wurden, haben die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber als Beitrags- und Steuerzahler wiederum den bei weitem größten Brocken zu tragen. Somit haben sie die Kurzarbeit weitgehend selbst finanziert. Für viele Arbeitnehmer war und ist dieses Krisenmanagement mit erheblichen Lohneinbußen verbunden. Es ist daher nur "recht und billig", wenn jetzt eine offensive Lohn- und Tarifpolitik eingeleitet wird.
Binnennachfrage stärken statt Lohndumping unterstützen
Auch gesamtwirtschaftlich ist eine derartige Wende in der Tarifpolitik erforderlich. Eine der wesentlichen Lehren aus der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise ist: Die Verselbständigung
der Finanztransaktionen von der realen Wirtschaft, die uns mit einer Aufblähung und Vernichtung von Kapital in unvorstellbaren Billionenbeträgen an den Rand des wirtschaftlichen Abgrunds gebracht
haben, muss wieder zurückgeführt werden. Ein zweites Mal können keine derartig gigantischen Rettungsschirme zu Lasten der Steuerzahler über eine "entgrenzte" Finanzbranche ausgebreitet
werden.
Neben der dringend erforderlichen Regulierung und Aufsicht auf den Finanzmärkten bedeutet dies nicht nur die nachhaltige Stärkung des Produktionssektors mit seiner hohen Exportorientierung sondern auch die Entwicklung der realen Binnenwirtschaft. Auch im volkswirtschaftlichen "Einmaleins" sind Löhne sowie Lohnsteigerungen nicht nur Produktions- und Arbeitskosten, sondern auch gesamtwirtschaftliche Nachfrage, die zur Förderung der Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik notwendig ist.
Dies haben uns die Finanzministerin von Frankreich Christine Lagarde sowie der Ministerpräsident von Luxemburg Jean Claude Juncker mit besonders drastischen Worten, wenn auch sicher nicht
uneigennützig, ins Stammbuch geschrieben. Beide bedeutsamen europäischen Politiker haben die weit unterdurchschnittliche Lohnentwicklung in Deutschland im EU Vergleich als "Sozialdumping" und
unfaire Wettbewerbsvorteile im Außenhandel gebrandmarkt und eine Umkehr gefordert.
Dr. Ursula Engelen-Kefer leitet den Arbeitskreis Sozialversicherung im Sozialverband Deutschland. Von 1990 bis 2006 war sie stellvertretende Vorsitzende des DGB.