Inland

Weltflüchtlingstag: „Es ist europäischer Wille, dass es Lager wie Moria gibt.“

In der Corona-Krise ist die Situation von Geflüchteten in den Hintergrund getreten. Dabei bedroht das Virus sie besonders, warnt Anja Sportelli von der „Seebrücke“. Von der deutschen Politik fordert sie, deutlich mehr Geflüchtete aufzunehmen.
von Kai Doering · 19. Juni 2020
Camp Moria auf Lesbos: Die Situation ist seit Monaten katastrophal.
Camp Moria auf Lesbos: Die Situation ist seit Monaten katastrophal.

Die Innenministerkonferenz hat am Freitag beschlossen rund 900 Gefüchtete aus den Lagern auf den griechischen Inseln in Deutschland aufzunehmen. Wie bewerten Sie diesen Schritt?

Wir betrachten dieses Ergebnis als einen Minischritt in die richtige Richtung. Tatsächlich hätte die Konferenz aber auch einen Schritt weiter gehen können. Nicht umsonst haben wir die Innenminister vor der Konferenz aufgefordert, sich deutlich für die Unterstützung der zuletzt beschlossenen Landesaufnahmeanordnungen in den Bundesländern Thüringen und Berlin auszusprechen. Daran halten wir fest. 900 von aktuell fast 40.000 Menschen in den griechischen Lagern aufzunehmen, ist immer noch viel zu wenig.

Die Bundesregierung hat im Frühjahr angekündigt, mindestens 350 unbegleitete oder kranke Kinder und Jugendliche aus den überfüllten griechischen Flüchtlingslagern nach Deutschland zu holen. Gekommen sind bisher 47. Woran liegt das?

Die Frage müssten Sie eigentlich der Bundesregierung stellen. Aus unserer Sicht hat es verschiedene Ursachen. Zum einen waren die Voraussetzungen für die Auswahl der Kinder sehr hoch. Es sollten unbegleitete Mädchen am besten unter 14 Jahren sein. Dabei sind 93 Prozent der unbegleiteten Flüchtlinge männlich und die meisten von ihnen sind zwischen 16 und 18 Jahre alt. Hinzu kommt, dass die Arbeit der griechischen Behörden durch Corona wohl auch stark eingeschränkt wird, was wiederum den Auswahlprozess verlangsamt. Besonders problematisch finde ich, dass „Ärzte ohne Grenzen“ schon vor Monaten Listen mit jugendlichen Geflüchteten erstellt hat, von denen aber niemand nach Deutschland gekommen ist. Von den 47 Kindern und Jugendlichen, die immerhin nach Deutschland kommen durften, hätten übrigens 20 ohnehin das Recht gehabt einzureisen, und zwar über die Familienzusammenführung. Insofern grenzt die ganze Aktion an einen Etikettenschwindel.

Berlin und Thüringen wollen eigene Landesaufnahmeprogramme starten, scheitern aber bisher an Bundesinnenminister Horst Seehofer, der dem zustimmen müsste. Wie bewerten Sie das?

Das ist ein Skandal. Neben den Bundesländern, die Geflüchtete aufnehmen wollen, gibt es ja auch mehr als 150 Kommunen, die sich dazu bereit erklärt haben. Dass sie das nicht dürfen, ist für uns nicht nachvollziehbar. Es gibt allerdings auch Rechtsgutachten, die sagen, dass die Länder durchaus Spielraum hätten. Vielleicht müsste die eine oder andere Landesregierung wie jetzt in Berlin einfach auch mal ein bisschen mutiger sein. Das würde den Druck auf die Bundesregierung und den Bundesinnenminister deutlich erhöhen.

Im Camp Moria auf der Insel Lesbos hausen noch immer mehr als 20.000 Geflüchtete, obwohl es nur für 3000 Personen ausgelegt ist. Wie sind die Bedingungen zurzeit vor Ort?

Die Situation ist seit Monaten katastrophal. Sauberes Wasser ist knapp, die hygienischen Bedingungen sind extrem schlecht und es gibt auch nur wenige Menschen mit medizinischen Kenntnissen im Lager. Es grenzt an ein Wunder, dass Corona dort bisher noch nicht ausgebrochen ist. Gäbe es nur ein paar Fälle, würde es sicher nicht lange dauern, bis das ganze Lager infiziert wäre – und das bei Menschen, die schon den ganzen Winter unter gesundheitlich sehr belastenden Bedingungen verbracht haben. Ein kleiner Lichtblick ist, dass es auf Lesbos sehr engagierte Geflüchtete gibt, die sich zu Teams zusammengeschlossen haben und so schon deutliche Verbesserungen im Lager erreicht haben, etwa was die Hygiene angeht.

Nicht nur von Organisationen wie der „Seebrücke“, auch aus der Politik gibt es seit Monaten Forderungen, das Lager zu evakuieren und zu schließen. Woran scheitert das?

Es ist ganz klar europäischer Wille, dass es Lager wie Moria gibt, um Menschen von der Flucht nach Europa abzuschrecken. Die Lager sind auch eine Folge des EU-Türkei-Deals aus dem Jahr 2016. Eigentlich sollen die griechischen Behörden Asylanträge sehr schnell prüfen und alle, bei denen sie abgelehnt werden, wieder zurück in die Türkei schicken. Im Austausch sollen dann syrische Kriegsflüchtlinge aus der Türkei in die EU einreisen dürfen. Dieser Mechanismus hat allerdings von Anfang an nicht funktioniert. Stattdessen wurden immer mehr Menschen in die Lager gepresst, in denen die Situation nicht erst seit Corona so desaströs ist. In den griechischen Lagern zeigt sich das Paradox der europäischen Flüchtlingspolitik: Auf der einen Seite werden die Menschenrechte hochgehalten, auf der anderen Seite die Grenzen zugemacht und Konflikte an die Außengrenzen verlagert. Deshalb hat niemand ein Interesse, die Lager aufzulösen.

Wegen Corona sind seit Anfang Mai nahezu keine zivilen Rettungsschiffe mehr im Mittelmeer unterwegs. Was bedeutet das für die Menschen, die übers Meer fliehen?

Deren Überfahrten finden nach wie vor statt. Da macht Corona kaum einen Unterschied. Und die wärmere Jahreszeit beginnt ja gerade auch erst. Die „Sea Watch“ ist nach langer Unterbrechung Anfang Juni zum Glück wieder ausgelaufen und hatte sofort drei Rettungseinsätze. Andere Schiff dagegen werden weiter aus fadenscheinigen Gründen festgesetzt. Für die Menschen, die übers Meer kommen, bedeutet das ein noch höheres Risiko, bei der Überfahrt zu ertrinken. Viele werden auch aufgegriffen und etwa nach Libyen zurückgebracht, wo man oft nicht genau weiß, was dort mit ihnen passiert. Ein Problem dabei ist, dass die öffentliche Wahrnehmung fehlt. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Corona-Krise, während das Sterben im Mittelmeer weitergeht. In diesem Jahr sind offiziell bereits fast 300 Menschen ertrunken, ohne dass es irgendjemand groß mitbekommen hätte. Skandalös fand ich persönlich den Brief des Bundesinnenministers an die Seenotretter, in dem sie im April gebeten wurden, ihre Arbeit wegen Corona einzustellen – und das kurz nachdem die „Alan Kurdi“ 183 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet hatte.

Die warme Jahreszeit hat gerade erst begonnen. Erwarten Sie eine weitere Zunahme der Zahlen in den kommenden Monaten?

Ja, dieser Trend ist auch bereits zu erkennen und daran ändert Corona auch nichts. Die Menschen, die übers Mittelmeer kommen, haben meistens ja keine andere Wahl. Für diejenigen, die in libyschen Lagern leben, ist die Flucht übers Meer der einzige Weg aus der Hölle heraus. Häufig entscheiden auch die Schlepper, dass sie die Menschen auf die Schiffe setzen, sobald sie alles Geld aus ihnen herausgepresst haben. Insofern rechnen wir in den kommenden Wochen und Monaten mit einem deutlichen Anstieg der Zahlen.

Was bedeuten Corona und die damit verbundenen Einschränkungen für die Arbeit der „Seebrücke“?

Zunächst mal fehlte die öffentliche Aufmerksamkeit für die Situation der Geflüchteten komplett. Seit sich die Corona-Situation nach und nach beruhigt, ändert sich das zum Glück wieder. Mit Online-Kampagnen – darunter zwei Online-Demos – haben wir als „Seebrücke“ versucht, die Öffentlichkeit wieder für das Thema zu sensibilisieren. Das hat auch ganz gut funktioniert. Die ersten Demos auf der Straße nach Beginn der Pandemie waren nicht ganz leicht, auch wenn wir die Hygienevorschriften natürlich eingehalten hatten. Der Druck der Polizei war da schon enorm. An dem Demos gegen Polizeigewalt und Rassismus der letzten Wochen beteiligen wir uns auch, denn auch der schlechte Umgang mit Geflüchteten hat viel mit Rassismus zu tun. Und viele Fluchtursachen sind letztlich im Post-Kolonialismus begründet.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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