Was sich im deutschen Pflegesystem ändern muss
Inga Kjer/photothek.net
Die Herausforderungen, vor denen das deutsche Pflegesystem steht, werden uns noch über Jahrzehnte beschäftigen. Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt kontinuierlich. Gleichzeitig gibt es in Deutschland immer weniger Familien, welche die Pflege der eigenen Angehörigen vollständig selbst bewältigen können. Ein steigender Bedarf an professionell Pflegenden ist folglich seit langem absehbar. Doch immer weniger junge Menschen wollen einen Pflegeberuf ergreifen. Und schon heute fehlen zahlreiche Pflegekräfte in den Einrichtungen. Oberstes Ziel muss es also sein, mehr Menschen für einen Pflegeberuf zu begeistern. Inwieweit dies mit dem neuen Pflegeberufegesetz gelingt, wird sich zeigen.
Pflegen unter schlechten Bedingungen
Die Reform der Ausbildung und die Abschaffung des Schulgeldes allein werden nicht ausreichen, um die gewaltige personelle Lücke zu schließen. Immer noch brechen zu viele Azubis die Ausbildung ab. Immer noch verlassen zu viele Berufsanfänger die Pflege frühzeitig wieder. Verantwortlich dafür sind die schlechten Rahmenbedingungen, unter denen Pflege in Deutschland stattfindet. Davon sind die ambulante, die stationäre und die häusliche Pflege in ähnlicher Weise betroffen. Als Krankenpfleger, der einige Jahre in einer fränkischen Klinik tätig war, möchte ich im Folgenden vor allem auf die Situation in den Krankenhäusern eingehen.
Die Ökonomisierung des Gesundheitssystems hat gerade auch im Pflegesektor Spuren hinterlassen. Die Einrichtungen sind angesichts des stetig steigenden Kostendrucks gezwungen, ihre Ausgaben zu minimieren. Dabei setzen sie meist beim größten Posten an, den Personalkosten. Die Pflege als größte Berufsgruppe trifft es in der Regel zuerst.
Falsche Anreize im Vergütungssystem
Der Abbau von Pflegepersonal in den Kliniken wird durch Fehlanreize im Vergütungssystem noch befördert. Es macht finanziell nahezu keinen Unterschied, ob ein Patient mit einer Lungenentzündung jung und ansonsten gesund ist oder älter und hilfsbedürftiger. Maßgeblich für die Höhe der Vergütung sind in erster Linie die Einweisungsdiagnose und die daran ausgerichtete ärztliche Behandlung. Diese Tatsache führt dazu, dass das Pflegepersonal im Krankenhaus vor allem als Kostenfaktor wahrgenommen wird, den es auf ein Mindestmaß zu reduzieren gilt.
Dass in der Folge der Druck auf die Pflegenden stetig wächst und darunter auch die Versorgung der Pflegebedürftigen leidet, wird ausgeblendet. Nicht das Wohl der Betroffenen steht im Vordergrund, sondern die betriebswirtschaftliche Bilanz des Unternehmens Krankenhaus. In manchen Bereichen der Gesellschaft mögen solche Logiken funktionieren. Aber wo es um die Gesundheit und das Leben von Menschen geht, sind sie fehl am Platz.
Was Pflegende brauchen
Die Differenz zwischen eigenem Anspruch und praktischer Wirklichkeit führt bei vielen Pflegenden zu Frustration und Resignation. Suchterkrankungen, geistige sowie körperliche Erschöpfung und ähnliche Leiden kommen in der Pflegebranche überdurchschnittlich oft vor. Die mitunter zu niedrige Bezahlung, überbordende Dokumentationspflichten und das Gefühl, gesellschaftlich wenig anerkannt zu sein, leisten ebenfalls ihren Beitrag zur beschriebenen Problematik.
Als ich 2008/2009 meinen Zivildienst in der erwähnten Klinik absolvierte, klagten meine Kolleginnen und Kollegen, dass die Zustände unhaltbar seien. Heute, acht Jahre später, stellen sie feste, dass sich die Lage noch verschlimmert hat. Wenn mehr Menschen für die Pflege gewonnen werden sollen, müssen endlich angemessene Mindestbesetzungsregelungen eingeführt werden, die vorgeben, wie viele Pflegekräfte in einer bestimmten Abteilung pro Schicht anwesend sein müssen. Außerdem brauchen wir einen Ausbau von Supervisions- und Reflexionsangeboten, die Pflegenden genügend Raum zur Verarbeitung ihres psychisch und physisch belastenden Arbeitsalltags geben. Zudem muss die Pflegedokumentation weiter entbürokratisiert werden.
Es geht um die Würde des Menschen
Unsere Gesellschaft muss sich überlegen, was ihr die Pflege in Zukunft wert ist. Dabei geht es in erster Linie nicht um Geld. Auch den Pflegekräften nicht, deren Löhne nichtsdestotrotz zu niedrig sind. Im Kern geht es um die Würde des Menschen, die sich täglich gegen ökonomische Zwänge behaupten muss und dabei oft den Kürzeren zieht. Ob wir als Gesellschaft die Fortsetzung der aktuellen Entwicklung wirklich wollen, sollten wir uns gut überlegen.
ist Gesundheits- und Krankenpfleger. Zurzeit studert er im Master Politikwissenschaft an der FU Berlin.