"Sie möchten mit der Frühschicht bei uns beginnen? Um sechs Uhr morgens?!" fragte meine Gesprächspartnerin beim Evangelischen Johannesstift ungläubig nach. Nun, ehrlich gesagt: normalerweise
stehe ich nicht um halb fünf in der Frühe auf. Aber ich wollte eine "richtige" Schicht mitmachen bei der Altenpflege. Nicht nur mal eben so für ein gutes Stündchen eine Besichtigungstour machen.
Im Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe hatte ich im Sommer bereits zwei Tage Krankenpflege erlebt, nun die Altenpflege im Stift.
Der erste Eindruck war schon von den Räumlichkeiten her positiv. Keine Krankenhaus-Atmosphäre, sondern eine wohnliche Stimmung prägt das Theodor-Fliedner-Haus. Die Übergabe von Nacht- auf
Spätschicht erfolgt in lockerer Runde in der Wohnküche, zwischendurch kommt eine rastlose Bewohnerin rein und empfiehlt einer Pflegerin, sich wärmer anzuziehen. Niemand reagiert gereizt, im
Gegenteil, man geht auf die alte Dame freundlich ein.
Die Bewohnerinnen und Bewohner haben in ihren Zimmern eine eigene Einrichtung. Häufig schöne, alte Holzmöbel, dazu sind Fotografien aus den alten Zeiten zu sehen - und auch Fotos jüngeren
Datums, häufig mit Enkelkindern. Beim ersten Rundgang habe ich Gelegenheit diese Blicke in die Lebensgeschichten zu werfen. Und tatsächlich erkenne ich die jungen Menschen in den alten Gesichtern
von heute wieder. Faszinierend.
Was fehlt ist Zeit
Anders als ich es im Krankenhaus erlebt
habe, werden nicht der Reihe nach alle Zimmer abgegangen. Die Pflegekräfte wissen, wer normalerweise früh aufsteht, wer länger schläft. Ist jemand noch nicht wach, wird er ein wenig in Ruhe
gelassen. Aber zu 8.15 Uhr sollten die Bewohner schon aktiviert werden, damit sie etwas frühstücken und auch ihre Medikamente nehmen können.
Ich erlebe eine sehr ruhige, den Menschen zugewandte, dabei professionelle Arbeit der Pflegekräfte. Die Menschen, die ja sowieso verschiedene Charaktere haben, sind zusätzlich durch ihre im
Alter sehr unterschiedlichen körperlichen und geistigen Fähigkeiten ganz individuell zu nehmen. Aber man kennt sich. Einige Bewohner stürzen sich nachgerade auf mich, weil sie jemand Neues zum
erzählen haben. Aber ich habe leider nicht genug Zeit, schließlich soll ich ja die Pflegerin begleiten. Ich mache Betten, helfe beim Anziehen, schiebe Rollstühle, bin bei einem Bewegungstraining
behilflich. Was man eben als ungelernte Kraft beisteuern kann.
Tatsächlich fehlt Zeit. Auch die Pflegekräfte hätten gerne mehr davon. Um sich um die Menschen zu kümmern, sich mit ihnen intensiv zu befassen. Auch um die notwendigen Verrichtungen wie
waschen, Essen geben, Bereitstellung von Medikamenten nicht hektisch durchzuführen, um Fehler zu vermeiden. Ungelernte wie ich könnten gerade hinsichtlich der Beschäftigung mit den Menschen
wertvoll sein. Es gab eine hitzige politische Debatte über den freiwilligen Einsatz von Menschen, die nach einer Qualifizierung einfache Tätigkeiten in der Altenpflege ausüben sollen. Ich finde
das gut, solange die Leute angemessen bezahlt werden und nicht die angestammten Fachkräfte verdrängen.
Dicke Akten für jeden Handgriff
Im Arbeitsablauf auffällig war, dass sehr viel dokumentiert und protokolliert wird. Zu allen Bewohnern gibt es dicke Akten, in die jeder Handgriff anschließend eingetragen wird. Das soll
der Kontrolle dienen - und der Abrechnung. Aber ob das jemals jemand liest? Alle Jubeljahre kommt der Medizinische Dienst der Krankenkassen oder die Heimaufsicht und gucken nach dem Rechten -
aber ob der Blick in zufällig ausgewählte Akten da wirklich hilft?
14 Uhr, Übergabe an die Spätschicht. Eigentlich keine besonderen Vorkommnisse. Ich bin noch mit der Pflegeleitung zum anschließenden Auswertungsgespräch verabredet. Und freue mich, dass die
Politik im Großen und Ganzen gelobt wird, auch die aktuelle Pflegereform mit ihrer Betonung des Vorrangs der Pflege zu Hause, unterstützt durch die Einführung einer Pflegezeit. Und dass endlich
gute Pflege honoriert wird. Bisher war es so, dass die Einrichtungen umso mehr Geld bekamen, je schlechter es den Bewohnern ging - eine Einladung zu üblen Machenschaften. Auch die Erhöhung der
Leistungen, insbesondere für Demenzkranke, die Einrichtung von Pflegstützpunkten, die verbesserte Kontrolle und Veröffentlichung der Kontrollergebnisse sind guteMaßnahmen.
Nachmittags verlasse ich das Johannesstift um einige Erfahrungen reicher, auch mit einigen persönlichen Gedanken über das Alter, die Würde und den gesellschaftlichen Umgang mit Schwachen.
Ich bin froh, dass es solche Einrichtungen wie die Altenpflege im Evangelischen Johannesstift gibt. Wir müssen sie stärken.
Swen Schulz ist studierter Politologe und SPD-Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Berlin Spandau-Charlottenburg Nord.