Inland

Was die deutsche Politik nach Deniz Yücels Entlassung tun muss

Deniz Yücel ist frei. Im Interesse der vielen anderen politischen Häftlinge in der Türkei müsse die deutsche Politik den Druck auf Ankara jetzt erhöhen, fordern Aktivisten. Wie nötig das ist, zeigt eine tragische Geschichte, die sich am Tag von Yücels Freilassung abspielt.
von Paul Starzmann · 16. Februar 2018

„Ich habe heute ein lachendes und ein tief traurig weinendes Auge,“ sagt Frank Überall wenige Stunden, nachdem klar ist, dass Deniz Yücel aus der türkischen Haft entlassen wird. Überall ist Bundesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV), der größten Gewerkschaft für Pressevertreter in der Bundesrepublik. Er ist froh, dass Yücel frei ist. Ausschließlich freuen kann er sich jedoch nicht an dem Tag. Der Grund: Zu viele seiner Kollegen in der Türkei bleiben weiterhin hinter Gittern.

Staatsanwalt fordert 18 Jahre Gefängnis für Yücel

Neben anderen Nicht-Regierungsorganisationen hat der DJV seit einem Jahr auf Yücels Freilassung gedrängt. „Wir haben uns massiv für ihn eingesetzt“, erinnert sich Überall. Deshalb ist er auch froh, dass der Fall Yücel nun ein glückliches Ende zu nehmen scheint. Zwar fordert die türkische Staatsanwaltschaft noch immer 18 Jahre Haft wegen angeblicher „Terrorpropaganda“ und anderer Delikte. Doch die Strafe muss Yücel wohl nicht fürchten: Der Türkei-Korrespondent der „Welt“ darf laut Medienberichten bald das Land verlassen und nach Deutschland heimkehren. Zurückbleiben mehr als 100 inhaftierte Kollegen.

 „Die haben nichts anderes getan als ihren Job zu machen“, betont Überall mit Blick auf die vielen Medienschaffenden im Gefängnis. Cornelia Haß, Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Journalisten-Union bei Verdi sagt: „Eigentlich hätte heute nicht nur eine Person entlassen werden müssen, sondern Hunderte.“

„Der Druck auf das Regime darf nicht nachlassen“

Hier sei auch die deutsche und europäische Politik gefragt, sind sich Haß und Überall einig. Auf diplomatischer Ebene müsse das Thema der Menschenrechte immer wieder in den Mittelpunkt gestellt werden. So dürfe es keine Verhandlungen über einen EU-Beitritt mit Ankara geben, solange der türkische Rechtsstaat „weiter erodiert“, wie Überall im Gespräch mit vorwärts.de sagt.

 „Solange die türkische Regierung Menschenrechte und die Pressefreiheit unterdrückt, müssen die wirtschaftlichen Beziehungen eingefroren werden“, sagt auch Verdi-Vize Frank Werneke. „Das ist die einzige Sprache, die Recep Tayyip Erdoğan und seine Helfershelfer verstehen.“ Haß stimmt zu: „Der Druck auf das Regime darf nicht nachlassen.“

Im Fokus der türkischen Justiz zu stehen

In der Tat haben deutsche Politiker in der Vergangenheit immer wieder bei der türkischen Regierung in Ankara und sogar Staatspräsident Erdoğan persönlich interveniert. So soll auch der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner im November 2017 freigekommen sein. Der Druck aus Deutschland sei wichtig, sagt DJV-Chef Überall: „Der Zusammenhang zwischen den Interventionen der Kanzlerin und des Bundesaußenministers und der Freilassung von Deniz Yücel ist unübersehbar.“

Davon ist auch der in der Türkei geborene deutsche Schriftsteller Doğan Akhanlı überzeugt. „Der Druck der deutschen Regierung war wohl in den vergangenen Tagen zu groß geworden“, zitiert ihn der „Kölner Stadtanzeiger“. Akhanlı weiß, wie es ist, im Fokus der türkischen Justiz zu stehen: Wie viele Linke wurde er in den 1980er Jahren in der Türkei eingesperrt und gefoltert. 2017 erließ Ankara gegen ihn sogar einen internationalen Haftbefehl. In der Folge wurde Akhanlı im Spanienurlaub festgesetzt, erst nach Wochen durfte er zurück nach Deutschland. Die Willkür der türkischen Justiz zeige sich nun auch in Yücels einjährige Haft ohne Anklageschrift und der plötzlichen Freilassung, sagt Akhanlı. Der ganze Fall sei „mehr als paradox“. Für die Gewerkschafterin Haß offenbart die Causa Yücel die „paranoiden Züge Erdoğans und seines Apparats“.

Lebenslange Haft für sechs Journalisten

Journalisten, Autoren und Menschenrechtler verweisen bei aller Freude über Yücels Freilassung auf die vielen Menschen, die weiterhin mit fadenscheinigen Begründungen in türkischen Gefängniszellen ausharren müssen. Die beiden Medien-Gewerkschafter Überall und Haß halten zu einigen der politischen Häftlinge Kontakt. „Dabei berührt mich sehr, wie ungebrochen der Wille dieser Menschen ist, sich nicht mundtot machen zu lassen“, sagt Haß. Überall zitiert seine inhaftierten Kollegen mit dem Satz: „Wir brauchen öffentliche Aufmerksamkeit.“ Denn: „Es ist eine Strategie des Erdoğan-Regimes, Kritiker in Vergessenheit zu bringen“, wie DJU-Geschäfsführerin Haß sagt. Für sie und DJV-Chef Überall ist das umso mehr Ansporn, sich auch in Zukunft für die Journalistenkollegen in den türkischen Gefängnissen stark zu machen.

Wie nötig das ist, zeigt ein aktueller Fall, der sich fast gleichzeitig zu Yücels Freilassung abspielte: Am Nachmittag trat Yücel durch das schwere Tor der Haftanstalt Silivri und nahm seine Frau in die Arme. Am selben Tag verhängte ein türkisches Gericht eine Strafe gegen sechs Journalisten, darunter zwei Brüder. Das Urteil lautet: lebenslänglich.

Autor*in
Paul Starzmann

ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.

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