Warum sich die russischsprachige Gemeinde von der Politik nicht ernst genommen fühlt
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Manchmal bekommt Anna Fokina von ihren Eltern ein Paket zugeschickt. Wenn sie dann das Klebeband mit einem Messer in zwei Hälften trennt, weiß sie längst, was sie darin auch erblicken wird – Buchweizen. Ihre Mutter, die mit ihrem Ehemann in Stuttgart wohnt, legt immer eine Packung mit in das Paket an ihre Tochter in Berlin, schließlich lässt sich daraus ein russisches Essen zubereiten: Buchweizenbrei, auch bekannt als „Gretschka“.
Die Frage der Identität
Die Speise ist für Fokina mehr als nur ein Essen. Sie erinnert sie an ihre Identität. Die 29-Jährige wurde 1988 in der Millionenstadt Kasan im heutigen Russland geboren. Einen Bezug zu Deutschland hatte ihre Familie damals nicht. Erst als ihr Vater, ein Ingenieur, ein wissenschaftliches Stipendium erhalten hatte, siedelte die Familie nach Deutschland um. Fokina war damals zehn Jahre alt und musste zunächst die deutsche Sprache lernen. Zu hören ist das nicht. Ohne jeglichen Akzent fliegen die Worte aus ihrem Mund. Auch ihr Äußeres fällt nicht auf. „Wenn ich sage, dass ich Russin bin, wundern sich alle“, sagt die Informationsdesignerin, die in Stuttgart aufgewachsen ist und inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat. Doch ganz so simpel ist das mit der eigenen Identität nicht. „Ich fühle mich als Russin, Schwäbin, Deutsche – kein Anteil überwiegt.“
In Deutschland leben knapp drei Millionen Menschen, deren Wurzeln in den ehemaligen Sowjetrepubliken liegen. Die größte Gruppe stellen laut Bundesamt für Migration die Russlanddeutschen, deren Vorfahren einst aus Deutschland nach Osten ausgewandert waren. Zwischen 1950 und 2012 kamen 2,4 Millionen ihrer Nachkommen zurück nach Deutschland, die meisten als sogenannte Spätaussiedler in den 1990er Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Zu unterscheiden sind sie von den 200.000 Immigranten jüdischen Glaubens und weiteren 200.000 Menschen mit russischer Staatsbürgerschaft, die ebenfalls in Deutschland leben.
Zurückhaltende Migrantengruppe
„Von der Politik wird viel zu wenig gewürdigt, wie gut sich diese Gruppe integriert hat und wie sehr sie sich engagiert“, sagt Fréderic Verrycken, der für die SPD im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt und sich für die Interessen der russischsprachigen Gemeinschaft einsetzt. Diese verhalte sich im Vergleich zu anderen Migrantengruppen sehr zurückhaltend, weswegen sie von der Politik nicht wahrgenommen werde.
Einen Schritt weiter geht Dmitri Stratievski. „Die Mehrheit der Menschen fühlt sich vom deutschen Staat nicht ernst genommen“, sagt der 42-Jährige, der innerhalb der Berliner SPD die Gruppe "Russisch sprechende Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in Berlin" leitet. Es fehle an Anerkennung, Dialogbereitschaft sowie an einer Willkommensgeste seitens der Politik an diese Bevölkerungsgruppe. Außerdem bemängelt der Historiker und Politologe, der selbst aus der Ukraine stammt, dass die Menschen immer noch vergleichsweise wenig in Politik und Verwaltung vertreten seien.
"Das war der größte Murks"
Wie abgekoppelt die deutsch-russischen Menschen von der Politik offenbar sind, zeigte der Fall Lisa. Im Januar 2016 hatte ein deutsch-russisches Mädchen aus Berlin-Marzahn angegeben, von Flüchtlingen vergewaltigt worden zu sein. Eine Lüge, trotzdem warfen das russische Fernsehen und der russische Außenminister der deutschen Polizei vor, die Vergewaltigung zu vertuschen. Die Unterstellung verunsicherte die Gemeinde und gipfelte schließlich in Demonstrationen. Dmitri Stratievski erinnert sich: „Ich habe besorgte Anrufe bekommen, ob nicht vielleicht doch etwas an den Vorwürfen dran sei.“ Inzwischen haben sich die Wogen geglättet. Allerdings: „Der Fall Lisa brennt der Community immer noch unter den Nägeln“, schildert der 42-Jährige. Schmerzhaft in Erinnerung geblieben sind auch Medienberichte, in denen die Russlanddeutschen pauschal als „Putins fünfte Kolonne“ und Neonazis bezeichnet worden seien.
Der Ruf, konservativ zu sein und CDU zu wählen, schwebt über den Spätaussiedlern seit den 1990er Jahren. Damals erlaubte die Regierung Kohl zahlreichen Russlanddeutschen nach Deutschland zu kommen und den deutschen Pass zu erhalten, wofür sich diese wiederum an der Wahlurne bedankten. Nach Einschätzung von SPD-Politiker Fréderic Verrycken sind die Menschen allerdings nicht konservativer als andere Migranten. Vielmehr sieht er in dem Image ein sorgsam gepflegtes Vorurteil, um die gesamte Bevölkerungsgruppe in eine rechte Ecke stellen zu können und nicht mit ihr reden zu müssen. „Das war der größte Murks, den linke Parteien hinsichtlich Migration bislang hingelegt haben“, sagt er.
Gesellschaftlicher Abstieg
„In der SPD gab es anfangs Berührungsängste“, sagt auch Dmitri Stratievski. Inzwischen gibt es allerdings erste Initiativen, um die russischsprachige Gemeinde besser einzubinden. Und mit Dmitri Geidel kandidiert bei der Bundestagswahl ein russischstämmiger Politiker für die SPD im Berliner Stadtteil Marzahn-Hellersdorf. An sich könnte die Partei durchaus bei dieser Bevölkerungsgruppe punkten. Immerhin beschäftiget diese vor allem soziale Themen, beispielsweise Arbeitslosigkeit, Rentenabsicherung sowie Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen und Lebensleistung. Letzteres ist ein großes Thema, weil viele der an sich hochgebildeten Menschen nach ihrer Ankunft in Deutschland einen gesellschaftlichen Abstieg hinnehmen mussten.
Um die Menschen politisch zu erreichen, müssen sie nicht nur mit den richtigen Themen angesprochen werden. Dmitri Stratievski empfiehlt Texte und Wortbeiträge auch immer auf Russisch zu übersetzen, weil ältere Menschen nur schlecht Deutsch sprechen. Bedacht werden müsse auch, dass die deutsch-russische Gemeinde nicht einheitlich organisiert ist. Um die Menschen auf seine russischsprachige SPD-Gruppe in Berlin aufmerksam zu machen, setzt der 42-Jährige deswegen auf Mundpropaganda und soziale Medien.
Abgeschnittene Kommunikation
Wie groß das Interesse an der Politik offenbar ist, davon wurde Fréderic Verrycken in seinem Berliner Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf überrascht. Zwei Mitarbeiter hatten ihn auf die russischsprachige Gemeinde aufmerksam gemacht. Immerhin haben mehr als 15.000 von den 127.000 Bewohnern in Charlottenburg einen russischsprachigen Hintergrund, weswegen die Bevölkerung den Stadtteil auch „Charlottengrad“ nennt. Als der Politiker daraufhin im vergangenen Jahr einen Raum in einem russischen Restaurant für eine erste Veranstaltung mietete, rechnete er mit wenigen Besuchern. Am Ende kamen mehr als 100 Menschen. „Es war proppenvoll, obwohl es ein heißer Tag war.“ Drei Stunden lang wurde diskutiert, was den Menschen auf dem Herzen lag. Seitdem hat sich zwischen Verrycken und der Gemeinde ein konstanter Austausch entwickelt. „Es gibt ein großes Bedürfnis, sich politisch zu engagieren und wahrgenommen zu werden“, sagt der 39-Jährige. Die SPD müsse sich überlegen, wie sie diese Menschen für sich gewinnen kann. „Wir müssen den Gesprächsfaden wieder aufnehmen, der lange Zeit abgeschnitten war.“