Inland

Warum eine Debatte über Rassismus in Deutschland notwendig ist

Nach dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd wird auch in Deutschland über Rassismus diskutiert. Endlich, sagen Menschen mit Migrationshintergrund – und hoffen, dass sich ihre Situation dadurch deutlich verbessert.
von Kai Doering · 11. Juni 2020
Demonstration am 7. Juni in Leipzig: „Rassismus fällt jetzt auf.“
Demonstration am 7. Juni in Leipzig: „Rassismus fällt jetzt auf.“

Liban Farah kennt Diskriminierung seit er ein kleines Kind ist. Vor 26 Jahren wurde er in Baden-Württemberg geboren. Seine Eltern waren aus Somalia nach Deutschland geflohen. „So sehr ich mich in der Schule auch angestrengt habe: Einsen habe ich nie bekommen“, erinnert er sich. Dabei seien seine Leistungen nicht schlechter gewesen als die seiner weißen Mitschüler*innen. Den nächsten Dämpfer gab es auf der Realschule. „Obwohl meine Noten gut waren, haben mir die Lehrer dringend dazu geraten, eine Ausbildung zu machen.“ Als Farah darauf bestand, auf ein Gymnasium zu wechseln, habe ihn die Direktorin ausgelacht.

„Rassismus hat immer auch etwas mit Macht zu tun“

Keine schönen Erfahrungen, sicher, aber lässt sich das Verhalten der Lehrer*innen wirklich an Farahs Hautfarbe festmachen? „Als ich mich am Gymnasium beworben habe, wurde mir dort gesagt, es gebe leider keine freien Plätze mehr. Meine Mutter hat dann einen deutschen Freund gebeten, seinen imaginären Sohn mit gleichen Noten anzumelden. Er wurde sofort genommen.“ Liban Farah kann Dutzende solcher Geschichten erzählen. Etwa die, als er eine Wohnung gefunden hatte und die Verwalterin ihm bei der Schlüsselübergabe sagte, normalerweise würde sie ja keine Ausländer nehmen, aber er, Farah, habe sich ja so gut verhalten. Eine junge deutsche Frau mit reichen Eltern wäre ihr aber rotzdem lieber gewesen.

Für Liban Farah gehören all diese Erfahrungen zusammen. Sie seien es, die den strukturellen Rassismus in Deutschland ausmachten. „Wer in der Schule benachteiligt wurde und deswegen schlechtere Noten hat und sich damit und mit seinem ausländischen klingenden Namen auf eine Arbeitsstelle bewirbt, hat dort geringere Chancen genommen zu werden. Er erhält also unter Umständen nicht die Arbeitsstelle, für die er eigentlich qualifiziert wäre und damit nicht das Einkommen, das er oder sie verdient hätte“, erklärt Farah. Benachteiligungen bei der Wohnungssuche könnten zudem zusätzliche Kosten bedeuten. „Rassismus kostet Menschen mit Migrationshintergrund also viel und behindert gleichzeitig den Aufbau von Vermögen“, folgert Farah.

„Rassismus hat auch immer etwas mit Macht und Abhängigkeit zu tun“, sagt er. Viele Diskriminierte würden schweigen, da sie die Konsequenzen fürchteten. Deshalb ist Farah froh, dass nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in den USA das Schweigen auch in Deutschland gebrochen wurde. „Rassismus fällt jetzt auf. Diese Diskussion ist immens wichtig“, findet Farah.

SPD in besonderer Verantwortung

Die SPD sieht er dabei ein einer besonderen Verantwortung. „Sie war immer die Partei für die Menschen mit Migrationshintergrund“, erinnert er. Farah selbst ist 2017 Mitglied geworden – „im Schulz-Hype“, wie er selbst sagt. „Ich bin nicht ohne Grund in die SPD eingetreten“, sagt er. Zuhause habe es immer geheißen, die SPD, das sind die, die für uns da sind. Diesen Nimbus drohe die Partei aber mehr und mehr zu verlieren, fürchtet Farah. Auch Umfragen legen nahe, dass der frühere Automatismus seit einigen Jahren nicht mehr funktioniert.

Deshalb hat sich Liban Farah auch so gefreut als SPD-Chefin Saskia Esken den Blick von den USA auf die Verhältnisse in Deutschland lenkte und rassistische Denkmuster hierzulande anprangerte. „Sie schaut und hört hin und verneint den Rassismus in Deutschland nicht“, lobt Farah. „Ich bin oft genug Opfer von Racial Profiling geworden und kenne viele denen es genauso ergangen ist“, berichtet Liban Farah.

Bei dieser – offiziell verbotenen – Praxis werden Menschen aufgrund äußerer Merkmale wie ihrer Hautfarbe von der Polizei kontrolliert. Offizielle Statistiken gehen deutschlandweit von 2000 bis 3000 Fällen dieser Art aus. Eine Studie der Universität Bochum kam allerdings im vergangenen Jahr zu dem Ergebnis, dass die Dunkelziffer wohl deutlich höher liegt. Die Wissenschaftler*innen gehen von mindestens 12.000 mutmaßlich rechtswidrigen Übergriffe im Jahr durch Polizeibeamte aus.

Pistorius: Polizei nicht unter Generalverdacht stellen

Saskia Esken fordert deshalb eine Aufarbeitung von übermäßiger Gewaltanwendung und Rassismus bei der Polizei sowie die Einrichtung einer unabhängigen Beschwerdestelle – eine Forderung, die auch der Bundesvorsitzende der SPD-AG Migration und Vielfalt, Aziz Bozkurt, unterstützt. „Nur eine wirklich unabhängige Beschwerdestelle kann effektiver Ansprechort für von polizeilichem Fehlverhalten betroffene Bürgerinnen und Bürger sein“, ist Bozkurt überzeugt. Nicht umsonst sei dies eine der Kernforderungen besonders der SPD-Mitglieder im NSU-Untersuchungsausschuss gewesen.

Für Boris Pistorius gehen diese Vorwürfe zu weit. „Ja, es gibt auch in Deutschland in allen gesellschaftlichen Bereichen Alltagsrassismus, der für die betroffenen Menschen eine enorme Belastung darstellt“, räumt der niedersächsische Innenminister ein. „Aber der Polizei zu unterstellen, sie habe ein größeres Problem mit Rassismus als andere Lebensbereiche, ist falsch und setzt die mehr als 300.000 Polizisten in Deutschland einem ungerechtfertigten Generalverdacht aus.“

Liban Farah jedenfalls hat große Hoffnung, dass sich durch die aktuelle Debatte tatsächlich etwas ändert. „Ich bin glücklich, dass wir nun endlich gehört werden und über Rassismus in Deutschland offen diskutiert wird“, sagt er. „Das sollten wir nutzen und mutige Vorschläge machen, wie wir dem Rassismus in Deutschland entgegentreten wollen, damit am Ende endlich alle aus vollem Herzen sagen können, dass sie zur Gesellschaft dazugehören.“

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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