Inland

Warum die Jamaika-Sondierungen wie eine „Tatort“-Folge ablaufen

Union, FDP und Grüne geben sich alle Mühe, die Sondierungen für eine „Jamaika“-Koalition spannend zu machen. Wie im Krimi lassen sie das Ende offen – obwohl längst klar ist, wie es ausgeht. Wie lange noch, bis die Zuschauer genervt wegschalten?
von Paul Starzmann · 16. November 2017
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Kommentar

Viele Deutsche lassen das Wochenende regelmäßig mit einem fiesen Mord ausklingen – ein Mann ertränkt ein Kind, ein Einbrecher ersticht eine Oma, ein LKW-Fahrer erwürgt eine junge Frau. Millionen Bürger dieses Landes sitzen am Sonntagabend gemütlich auf der Couch und schauen sich im Fernsehen genüsslich die größten Grausamkeiten an. Um viertel nach acht ist „Tatort“-Zeit in deutschen Wohnzimmern.

Um 21:45 Uhr wissen wir mehr

Union, FDP und Grüne versuchen nun, dem wöchentlichen Fernseh-Drama Konkurrenz zu machen. Ihre Vertreter bemühen sich, die Sondierungsrunden um ein mögliches „Jamaika“-Bündnis spannend wie einen Krimi wirken zu lassen. Das Ende soll offen erscheinen. Zum Einsatz kommen die klassischen Elemente der Dramaturgie: Helden und Gegenspieler, Licht und Schatten sowie jede Menge Klischees.

Vor allem die Männer auf der „Jamaika“-Bühne geben ihr Bestes, um als tapfere, furchtlose Helden wahrgenommen zu werden. Da steht etwa CDU-Mann Jens Spahn, mit Akten unterm Arm und entschlossenem Gesichtsausdruck. „Es wird keine Koalition um jeden Preis geben“, beteuert er. Wie im ARD-„Tatort“ soll der Zuschauer auf die Folter gespannt werden: Werden die Kommissare jemals ein Ermittlungsergebnis präsentieren? Um 21:45 Uhr wissen wir mehr.

Hauptstadtpresse: Wie eine Familie vor dem Fernseher

Als einer der Gegenspieler zu Spahn tritt der Grüne Jürgen Trittin auf. Auch er dreht an der Spannungsschraube. „Wir müssen am wenigsten Angst vor Neuwahlen haben“, sagt er. FDP-Mann Wolfgang Kubicki sieht sogar einen „Hurrikan“ über Jamaika aufziehen. Der Griff in die Klischeekiste soll dramatisch wirken, Weltuntergangsstimmung erzeugen. Die Botschaft: Jetzt sind echte Helden gefragt, die aus dem Schatten ins Licht treten und alles zum Guten wenden.

Die Hauptstadtpresse greift die Dramaturgie der „Jamaika“-Unterhändler dankbar auf. Seit Tagen fragen Journalisten, ob und wie die Sondierungen bald scheitern werden. Und was dann? Es ist wie in einer Familie, die am Sonntag vor dem Fernseher spekuliert, wer denn nun der Mörder gewesen sein könnte. Zugleich wissen alle schon, wie die Sendung nach 90 Minuten enden wird: mit einer Lösung des Mordfalls.

Genauso ist es mit „Jamaika“: Alle wissen, dass sich Union, FDP und Grüne in den kommenden Tagen und Wochen schon irgendwie einigen werden. Zur Not mit vagen Versprechen und abstrakten Absichtserklärungen im Koalitionsvertrag. Zu groß ist für alle Beteiligten die Verlockung der Macht – und die Angst vor Neuwahlen.

Immer weniger Menschen wollen „Jamaika“

Aber sie wollen es spannend machen, die Zuschauer bei Laune halten: Deshalb lässt sich auch so viel über den Zeitdruck lesen, unter dem Union, FDP und Grüne angeblich gerade stehen. Aus dem „Tatort“ wissen wir, wie der Faktor Zeit die Spannung eines Krimis steigert. Wenn etwa der mutige Polizist mit zittrigen Fingern ein Kabel durchknipst, um in allerletzter Sekunde die tickende Zeitbombe zu entschärfen. Obwohl die Zuschauer ahnen, dass es klappen wird, halten sie bei solchen Szene dennoch den Atmen an.

Das Schöne am „Tatort“ ist das Vertraute an der Sendung: Von Anfang steht fest, wie die Sache ausgehen wird. Zwar nicht im Detail, doch die Zuschauer wissen von vornherein: Nach 90 Minuten wird es einen Schuldigen geben. Der wird verhaftet werden und für seine abscheuliche Tat büßen müssen. Bis dahin muss die Handlung jedoch interessant genug sein und die Schauspieler müssen überzeugen – sonst schalten die Zuschauer weg. Im Fall der „Jamaika“-Sondierungen passiert das gerade: Laut Umfragen wollen immer weniger Menschen so ein Bündnis.

Gewinnen immer die Guten?

Vielleicht liegt das aber auch an einem bedeutenden Unterschied, den es zwischen „Tatort“ und „Jamaika“ gibt: Im Fernsehkrimi gewinnen am Schluss immer die Guten. Bei den aktuellen Gesprächen zwischen Union, FDP und Grünen ist das hingegen alles andere als sicher.

 

Autor*in
Paul Starzmann

ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.

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