Inland

Warum der soziale Aufstieg für Arbeiterkinder so schwierig ist

Es gibt sie: Arbeiterkinder in der Wissenschaft. Aber sie werden wieder seltener. Dabei bringen Aufsteiger*innen ein großes Potenzial mit, erklärt Soziologin Christina Möller. Was den sozialen Aufstieg so schwierig macht, sagt sie im Interview.
von Vera Rosigkeit · 30. August 2020
Studierende an der Universität: Der Einstieg in höhere Positionen ist deutlich schwieriger geworden, sagt die Soziologion Christina Möller.
Studierende an der Universität: Der Einstieg in höhere Positionen ist deutlich schwieriger geworden, sagt die Soziologion Christina Möller.

Frau Möller, gemeinsam mit mehreren Autor*innen haben Sie das Buch „Vom Arbeiterkind zur Professur“ herausgegeben. Es enthält u.a. biographische Reflexionen sozialer Aufsteiger*innen, die es bis zur Hochschulprofessur geschafft haben. Eine Gemeinsamkeit scheint zu sein, dass der Aufstieg nicht geplant ist.

Das ist ein typisches Kennzeichen von Aufsteiger*innen. Die ursprüngliche Motivation ist, sich verändern zu wollen. So wie es auch Didier Eribon in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ beschrieben hat. Auch er wollte aus den Grenzen ausbrechen, die ihm das Herkunftsmilieu der Arbeiterklasse auferlegt hat. Im Vordergrund dabei steht häufig eher das Erkenntnisinteresse, kaum einer will einen hohen Status erreichen und sagt, ich werde jetzt Professor. Was auch sehr unwahrscheinlich wäre, denn nur rund zehn Prozent aller Professor*innen kommen aus der Arbeitschicht. Es wird - und auch das beschreibt Eribon sehr intensiv - im eigenen Umfeld eher negativ gesehen, eine so ausgeprägte Karriere machen zu wollen. In den Biographien unseres Buches ist viel über diese Entfremdung zu Eltern und Geschwistern nachzulesen. „Mach was aus Dir, aber bleib der Alte“ lautet beispielsweise der Titel eines Textes eines Aufsteigers. Niemand will oder soll sich so weit vom Herkunftsmilieu entfernen.

Eine weitere Gemeinsamkeit sind die Zweifel einhergehend mit der Frage, ob ich hier – also im akademischen Feld - richtig bin. Arbeiterkinder haben andere biographische Erfahrungen, ihr Habitus, so wie ihn der Soziologe Pierre Bourdieu geprägt hat, unterscheidet sich und bleibt oft gespalten. Dadurch, dass man nicht privilegiert aufgewachsen ist, hat man häufig andere Wertvorstellungen. Viele unserer Biograph*innen sind zudem sozial sehr engagiert.

Rainer Müller beispielswiese wird als Mediziner Professor für Arbeitsmedizin/Sozialmedizin und setzt sich u.a. für humanitäre Arbeitsbedingungen ein. Lässt sich das als eine Art mentale Rückkehr zum Herkunftsmilieu interpretieren?

Man ist häufig solidarisch und zwar mit der eigenen Klasse, so würde ich das sagen. Man versteht, wie diese Menschen so ticken und warum sie so ticken. In der Wissenschaft nehmen Aufsteiger*innen oft andere Perspektiven ein. Oft werden schon Themen anders gesetzt und mehr auf marginalisierte Gruppen geschaut, auch um mehr auf Chancengerechtigkeit hinzuwirken. Man kann ja trotzdem objektiv sein. Die Wissenschaft braucht die Nähe zu gewissen Milieus samt ihrer Erfahrung. Auch deshalb ist es wichtig, mehr Frauen und Migrant*innen dabei zu haben. Diese Menschen bringen ein großes Potenzial in die Wissenschaft ein. Das wollen wir mit diesem Buch zeigen.

Der soziale Aufstieg durch Bildung ist aber nicht leichter geworden, oder?

Im Gegenteil steigt die Tendenz einer sozialen Schließung. Das heißt nicht, dass nicht mehr Menschen studieren. Aber der Einstieg in höhere Positionen ist deutlich schwieriger geworden. Und die Bedingungen häufig nur von privilegierten Gruppen zu erfüllen. Nehmen wir als Beispiel die große Internationalisierung der Wissenschaft. Sie erreichen heutzutage keine Professur mehr, wenn sie nicht perfekt Englisch sprechen und im Ausland auf entsprechenden Universitäten waren. Es sind aber typisch privilegierte Biographien, die auch mal ein, zwei Jahre ins Ausland gehen können. Eine Aufsteigerin aus der Arbeiterklasse bringt das nicht mit. Da fehlen schon die ökonomischen Grundlagen, geschweige denn, dass die Eltern ihr sagen, mach das mal so und so, das ist gut für deine Karriere.

Was hat sich geändert?

Viele haben von der großen Bildungsexpansion in den 60er und 70er Jahren profitiert, wo das BAföG oder auch der zweite Bildungsweg geschaffen wurden. Ungefähr seit den 90er Jahren schließt sich die Tür eher wieder. In meiner Publikation „Herkunft zählt fast immer“ habe ich die  Professor*innen mit Blick auf ihre soziale Herkunft in NRW untersucht und festgestellt, dass vor allem Juniorprofessor*innen fast ausschließlich aus Akademikerfamilien und höheren Klassen kommen.

Liegt das auch daran, dass der Bildungsweg bei Aufsteiger*innen in der Regel etwas länger dauert?

Das hängt mit den Karriereaufstiegsplänen zusammen, die eben Aufsteiger*innen in der Regel nicht haben. Sie verfügen nicht über die notwendigen Strategien und haben zudem häufig einen riesigen Respekt davor.

Wo fängt die Ausgrenzung an?

Sie fängt schon damit an, dass einige Kinder im Kindergarten sind und andere nicht. Es folgen die Selektionsmechanismen der Schulübergänge, wo viele verloren gehen. Und dann kommt noch die Frage, wer studiert was? Bei der Promotion lässt sich das ganz gut nachvollziehen, weil viele Aufsteiger*innen nicht die Fächer studieren, in denen Promotionen praktisch dazu gehören, wie in der Medizin zum Beispiel.

Eine Promotion kostet eine Menge Geld, denn es sind viele Jahre ohne festes Einkommen.

Klar, das muss man sich leisten können. Und Aufsteiger*innen haben häufig eine mehr praktische Ausrichtung und wollen ins Berufsleben. Da ist eine Promotion überflüssig.

Mit Finanzierungshilfen alleine ist es aber auch nicht getan?

Nein, es ist ein strukturelles Problem. Arbeiterkinder brauchen Patinnen oder Paten, die ihnen das zutrauen, was sie sich selber nicht zutrauen. Selbst Einserkandidat*innen schrecken häufig vor einem Begabtenstipendium ab. Eine Studie von 2009, die Auswahlkriterien von Begabtenförderungswerke untersucht, macht deutlich, dass auch hier privilegierte Biographien einen Vorteil mitbringen, weil sie das bürgerliche Wissen über Kunst und Kultur ebenso wie die Nähe zu höheren Berufspositionen ganz automatisch mitbringen. All das, was vom Alltag eines Arbeiterkindes eben weit entfernt war.

Im Buch wird immer wieder Eribon zitiert. Warum hat das Buch gerade jetzt so eine Welle losgetreten, das Thema ist ja nicht neu?

Sein großer Erfolg in Frankreich war auch Auslöser für unser Buch. Die Idee stammt ursprünglich von Julia Reuter, auch dass wir die Leute selbst zu Worte kommen lassen wollten. In den Institutionen im Ruhrgebiet, wo ich tätig bin, ist soziale Herkunft in der Wissenschaft auch kein Thema. Wissenschaftler*innen wollen sich über ihre Leistung definieren. Da wird die Illusion, dass alle einzig aufgrund ihrer Leistung hier angekommen sind, sehr hochgehalten.

Das besondere an Eribons Rückkehr nach Reims ist jedoch, dass er so offen über die soziale Scham spricht. Dass auch er seine soziale Herkunft lange geleugnet hat und es ihm weniger schwer fiel, über seine homosexuelle Scham zu sprechen als über seine soziale Scham. Hinzu kommt die Verbindung seiner eigenen Biographie und dem Rechtsruck in Frankreich, den er auch in seiner Familie beobachtet hat. Durch dieses Buch ist auf jeden Fall etwas ins Rollen gekommen. Denn bei Chancengleichheit in der Wissenschaft ging es bisher immer nur ums Geschlecht. Weil sich das so gut messen lässt. Soziale Herkunft aber ist nicht direkt sichtbar.

node:vw-infobox

Autor*in
Avatar
Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare