Warum der Mindestlohn auf zehn Euro erhöht werden muss
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Zum 1. Januar 2015 hat die Große Koalition auf Drängen der SPD einen Mindestlohn von 8,50 Euro brutto pro Zeitstunde eingeführt, der zwar aufgrund zahlreicher Ausnahme-, Sonder- und Übergangsregelungen für einzelne Branchen bzw. Personengruppen (z.B. Langzeitarbeitslose, Jüngere ohne Berufsabschluss, Kurzzeitpraktikanten und Zeitungszusteller) längst nicht flächendeckend ist, aber eine historische Zäsur im Kampf gegen Lohndumping darstellt. Schließlich hat der Mindestlohn keine Arbeitsplätze vernichtet, wie von neoliberalen Ökonomen und renommierten Wirtschaftsforschungsinstituten prognostiziert, sondern den Niedriglohnsektor nach unten abgedichtet und eine weitere Lohnspreizung verhindert.
Warum 8,50 Euro Mindestlohn nicht ausreichen
Lohn- und Preisentwicklung machen eine regelmäßige Anpassung des Mindestlohns erforderlich, die laut Gesetzestext im Zweijahresrhythmus stattfindet. Besser wäre allerdings eine jährliche Anpassung, damit sich keine Kluft zwischen Niedrig- und Durchschnittslohnentwicklung auftut. Um den Mindestlohn dem politischen Kräftespiel und parteitaktischem Kalkül zu entziehen, sieht das Gesetz eine ständige Kommission vor, die sich nachlaufend an der Tarifentwicklung orientieren und der Bundesregierung jeweils rechtzeitig eine diese jedoch nicht bindende Empfehlung geben soll. Dabei würde eine Politisierung der Mindestlohndiskussion die Skandalisierung der sozialen Polarisierung unserer Gesellschaft erleichtern, während technokratische, hinter verschlossenen Türen getroffene Entscheidungen die „Politikverdrossenheit“ vieler Menschen erhöhen.
Am Dienstag beschließt die mit drei Arbeitgeber- und drei Gewerkschaftsvertretern, einem „neutralen“ Vorsitzenden und zwei sie beratenden, nicht stimmberechtigten Wissenschaftlern besetzte Kommission darüber, welche ab 1. Januar 2017 rechtsverbindliche Mindestlohnhöhe sie dem Bundeskabinett vorschlagen wird. Da die Mindestlohn-Kommission ihrer Entscheidung den Tarifindex des Statistischen Bundesamtes zugrunde legt und davon aufgrund ihrer Geschäftsordnung nur mit einer Zweidrittelmehrheit abweichen kann, ist nur eine leichte Erhöhung auf 8,77 bis 8,87 Euro pro Zeitstunde zu erwarten. Selbst wenn der zuletzt genannte Wert aufgerundet würde, reicht er nicht zur Deckung des soziokulturellen Existenzminimums aus.
Was der Mindestlohn leisten muss
Statt über solche Centbeträge zu streiten, sollte die Kommission dafür sorgen, dass der Mindestlohn einen „angemessenen Mindestschutz“ (Gesetzestext)er Beschäftigten gewährleistet. Dazu muss er das soziokulturelle Existenzminimum der arbeitenden Menschen sicherstellen, Erwerbsarmut vermeiden, den Betroffenen über die Niedriglohnschwelle (zwei Drittel des mittleren Lohns) helfen sowie Altersarmut und die Abhängigkeit von staatlichen Grundsicherungsleistungen verhindern.
Bisher ermöglicht der Mindestlohn es seinen Beziehern in den meisten Fällen nicht einmal, eine der genannten Hürden zu nehmen: Nur wer keine Kinder und eine preiswerte Mietwohnung hat, gelangt durch den Mindestlohn aus Hartz IV heraus. Mit gerade einmal 47,8 Prozent des mittleren Lohns liegt der Mindestlohn deutlich unterhalb der Armuts(risiko)schwelle von 60 Prozent. Soll er mit dem ausufernden Niedriglohnsektor das Haupteinfallstor für Armut in Deutschland schließen, muss der Mindestlohn allen Beschäftigten wenigstens zwei Drittel des Medianlohns sichern. Um nach 45-jähriger Vollzeitberufstätigkeit eine Rente oberhalb der Grundsicherung im Alter zu gewährleisten, müsste der Stundenlohn nach Regierungsangaben sogar 11,68 Euro betragen.
Zeit für zehn Euro
Analog zu der vom demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders unterstützten Gewerkschaftskampagne „Fight for Fifteen“ für einen Mindestlohn von 15 Dollar sollte hierzulande die Losung ausgegeben werden, dass es Zeit für zehn Euro ist. Da alle westeuropäischen Staaten bereits heute einen – teilweise sogar erheblich – höheren Mindestlohn als die Bundesrepublik haben, Deutschland aber das wirtschaftsstärkste EU-Mitglied ist, sind zehn Euro pro Stunde notwendig, will man verhindern, dass es sich durch Lohndumping noch länger Wettbewerbsvorteile gegenüber den „Krisenstaaten“ Griechenland, Portugal und Italien verschafft. In einem so reichen Land wie der Bundesrepublik darf der Mindest- kein Armutslohn bleiben!
Michael Gottschalk
hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und kürzlich das Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“ veröffentlicht.