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Wahlrechtsreform: „Eine doppelte Legitimation für die Abgeordneten“

Sebastian Hartmann hat den Vorschlag der Ampel für eine Reform des Wahlrechts mit erarbeitet. Im Interview sagt der SPD-Abgeordnete, wie der Bundestag verkleinert werden soll und warum direkt gewählte Abgeordnete den Einzug künftig verpassen könnten.
von Kai Doering · 14. Juli 2022
Soll nicht weiter wachsen: Die Wahlrechtsreform soll den Bundestag auf 598 Abgeordnete begrenzen.
Soll nicht weiter wachsen: Die Wahlrechtsreform soll den Bundestag auf 598 Abgeordnete begrenzen.

Der Bundestag soll künftig verbindlich 598 Sitze haben. Zurzeit sind es 736. Warum ist ein so großes Parlament ein Problem?

Die Größe des Bundestages hat entscheidenden Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit des Parlaments: Die Abgeordneten arbeiten thematisch in ihren Fachausschüssen. Der wachsende Bundestag führt zu immer größeren Ausschüssen und erschwert bis hin zu Plenardebatten den Austausch. Hinzu kommen logistische Probleme: Bisher musste der Bundestag in jeder Wahlperiode anbauen, um zusätzliche Büros für Abgeordnete und Mitarbeiter zu schaffen. Das kann nicht die Lösung sein, zumal mit dem derzeitigen Wahlrecht das Ende noch gar nicht erreicht ist. Je nach Wahlergebnis könnten es auch 800 oder sogar 900 Abgeordneten werden. Zudem wirkt die Größe des Bundestags auch auf die regionale Repräsentanz der Abgeordneten. Zurzeit haben wir dort 299 direkt gewählte Abgeordnete und mittlerweile 437, die über Listen oder über Ausgleichsmandate ins Parlament eingezogen sind.

Wie kommt es, dass die Regelgröße zurzeit um fast 140 Sitze überschritten wird?

Die gesetzliche Regelgröße des Bundestags ist auf 598 Abgeordnete festgelegt. Sie setzt sich aus 299 Abgeordneten zusammen, die direkt in den Wahlkreisen gewählt werden, und 299 Abgeordneten, die über die Listen der Parteien einziehen. Allerdings wird diese Regelgröße nie eingehalten. Stattdessen sorgen Überhangsmandate und dementsprechende Ausgleichsmandate dafür, dass das Parlament immer größer ist als vorgesehen. Ein Überhangmandat entsteht, wenn eine Partei mehr Wahlkreise direkt gewinnt, als ihr eigentlich nach Zweitstimmen an Sitzen im jeweiligen Land zusteht. Insbesondere durch die Direktwahl von Abgeordneten mit schwachen Ergebnissen kann sich die Größe des Bundestags stark erhöhen. Wir beobachten das vor allem in Bayern bei Abgeordneten der CSU.

Der Vorschlag der Ampel für eine Wahlrechtsreform sieht deshalb vor, dass die Sitze künftig anhand des Zweitstimmenergebnisses verteilt werden. Was ist der Vorteil?

Wir haben ja bereits im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass wir eine echte Reform des Wahlrechts wollen. Mit unserem Vorschlag stärken wir den Grundsatz des Verhältniswahlrechts, das in Deutschland gilt. Im bisherigen Modell ist allerdings vorgesehen, dass auch der Direktwahlakt mit der Erststimme mit relativer Mehrheit stattfindet. Das führt dazu, dass Abgeordnete zum Teil auch mit Wahlergebnissen mit weniger als 30 Prozent ein Direktmandat erringen. In der alten West-Bundesrepublik war das kein Problem, weil die beiden großen Volksparteien die Direktmandate unter sich ausgemacht haben. In einem Sechs- bzw. Sieben-Parteiensystem sieht das anders aus. Da das Wahlergebnis nicht verzerrt werden darf, werden für knapp gewonnene Direktmandate Ausgleichsmandate erforderlich. Werden die Sitze anhand des Zweitstimmenergebnisses berechnet und Direktmandate unter der Voraussetzung einer Zweitstimmendeckung zugeteilt, entfällt das. CDU und CSU sind die großen Profiteure des derzeitigen Wahlrechts – übrigens nicht, weil sie erststimmenstark sind, sondern zweistimmenschwach. Konkret: Die CSU hat in Bayern nur 31,7 Prozent der Zweitstimmen gewonnen, gewinnt aber 45 der 46 Wahlbezirke teilweise knapp. Mit der Folge ernormer Zahlen an Ausgleichsmandaten.

Kritik gibt es vor allem an der Idee, dass Kandidat*innen, die einen Wahlkreis direkt gewinnen, trotzdem nicht im Bundestag vertreten sein könnten, weil ihre Partei nicht die notwendige Anzahl an Zweitstimmen erhalten hat.

Mit unserem Vorschlag stärken wir die Säulen der Wahlen, indem wir das Prinzip der verbundenen Mehrheitsregel einführen. Wir wollen, dass es für Abgeordnete eine doppelte Legitimation gibt: Zuerst werden die Sitze auf die Parteien verteilt und diese danach auf die Länder verteilt. Dieses Sitzkontigent wird wie bisher auch zunächst durch die Direktwahlsiegerinnen und -sieger aufgefüllt. Aber nur, solange sie von der Anzahl der Zweistimmen gedeckt sind. Wir verhindern so den Überhangfall und damit brauchen wir auch keine Ausgleichsmandate mehr. Wir haben also ein reines Verhältniswahlrecht, das aber personalisiert bleibt, weil die Abgeordneten in den Wahlkreisen direkt gewählt werden können. So wird erstmalig die relative Mehrheitswahl im Wahlkreis fest mit dem entscheidenden Prinzip des Verhältniswahlrechts verbunden – ohne dass es zu gegenseitigen Störungen wie bisher kommen kann. Zudem stellen wir sicher, dass es keine verwaisten Wahlkreise ohne Repräsentantinnen und Repräsentanten gibt. Die Wählerinnen und Wähler dürfen zugleich am Wahltag festlegen, wer Ersatzbewerber*in werden darf, falls einmal ein Direktmandat mangels Sitzkontigent nicht zugeteilt werden kann.

Sie halten den Vorschlag also für verfassungskonform?

Ja. Wir haben den Reformvorschlag mit einer Vielzahl von Expertinnen und Experten erörtert. Wir sind deshalb sehr sicher, dass wir mit guten Argumenten in eine mögliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht gehen könnten. Bei der Bewertung unseres Vorschlags sollte man auch eine Gegenbewertung vornehmen, denn die bisherigen Vorschläge haben das Problem des immer weiter wachsenden Bundestages nicht gelöst. 2013 hatte das Parlament 631 Abgeordnete, 2017 waren es 709 Abgeordnete und nun 736. Und dass trotz einer im Ergebnis widersprüchlichen kleinen Wahlrechtsreform im Herbst 2020.

Deshalb gibt es u.a. den Vorschlag, die Anzahl der Wahlkreise zu verringern.

Das wäre ein echter Bruch in der Logik. Dies würde dazuführen, da die Regelgröße des Bundestages mit 598 Abgeordneten beibehalten wird, dass es kein Eins-zu-eins-Verhältnis mehr zwischen direkt gewählten Abgeordneten und Abgeordneten, die über eine Liste einziehen, gibt. Es ist schon ein Unterschied, ob ich als Bürger 299 Mal die Chance habe, einen Wahlkreisabgeordneten zu wählen oder nur 250 Mal und dann in wesentlich größeren Wahlkreisen, wie es von manchen vorgeschlagen wird. Damit würde auch die Macht der Parteien wachsen, die ja die Listen aufstellen. Unser Vorschlag bietet dagegen ein Mehr an Demokratie und Auswahlmöglichkeiten.

Die CDU lehnt den Entwurf der Ampel ab und schlägt stattdessen ein Grabensystem vor, bei dem 299 Mandate über den Wahlkreis und 299 Mandate über die Parteilisten vergeben werden. Wie bewerten Sie das?

Dieser Vorschlag ist eine doppelte Provokation. Zum einen ist er die maximale Gegenposition zu unserem Modell, zum anderen wird es dadurch sehr schwer, einen Kompromiss zu finden. Würde der Vorschlag der CDU Wirklichkeit, würde beispielsweise die CSU mit knappster Mehrheit nahezu alle Direktmandate in Bayern erringen und zusätzlich über die Zweitstimme auch noch Listenkandidaten in den Bundestag bringen. Im aktuellen Bundestag hätte die Union nach diesem Modell 222 Sitze statt der 197, die sie tatsächlich hat. Mit dem Unterschied, dass der Bundestag sogar nur 598 Sitze statt 736 Sitze hätte. Und obwohl SPD und Union bei der letzten Wahl zusammen genommen nur 49 Prozent der Stimmen erhalten haben, hätten sie nach Auszählung nach dem Grabenwahlrecht eine verfassungsändernde Mehrheit von 72 Prozent im Bundestag. Das zeigt, dass der Vorschlag der Union eine totale Verzerrung des Wahlergebnisses wäre, vor allem zu Lasten der kleineren Parteien. Sie würden praktisch pulverisiert. Die Union dagegen hätte ein Dauer-Abo für den Wahlsieg bis hin zur absoluten Mehrheit.

Über die Anzahl der Mandate hinaus gibt es auch Vorschläge, über eine Reform des Wahlrechts für Parität zu sorgen oder die Wahlberechtigten im Ausland besser zu berücksichtigen. Inwieweit wird dies in die Wahlrechtsreform einfließen?

Sowohl SPD als auch die Grünen wollen die Parität auch in den Wahlkreisen. Möglichkeiten, um das zu erreichen, gibt es einige, etwa, indem Duos antreten aus Mann und Frau. Man könnte auch die Parteien dazu verpflichten, dass sie nur paritätisch besetzte Listen einreichen dürfen. Bei SPD, Grünen und Linken dürfte das kein Problem sein, weil sie das schon jetzt machen. Auf liberal-konservativer Seite sieht das anders aus. Wir werden nach der Sommerpause deshalb über dieses und weitere Themen sprechen. Aus der Kommission werden dazu konkrete Vorschläge in den Bundestag eingebracht.

Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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