Vor der Landtagswahl: Rückkehr nach Görlitz
„Was wäre, wenn ich hier geblieben wäre? Das ist die zentrale Frage, die ich mir immer wieder stelle“, sagt Martha Kliemt. Die 21-Jährige ist in einem kleinen Dorf im Landkreis Görlitz aufgewachsen. Inzwischen studiert sie in Berlin und engagiert sich seit einem halben Jahr in der SPD. Wenn sie heute durch Görlitz läuft, ist ihre Verunsicherung groß. Bei Gesprächen mit Bekannten auf der Straße versucht sie politische Themen möglichst zu vermeiden.
Stilvoll, abgelegen, pragmatisch
Die Fahrt von Berlin nach Görlitz dauert etwas mehr als zweieinhalb Stunden. Genauso lange wie vor 100 Jahren. Vom Hauptbahnhof führt die Berliner Straße in Richtung Innenstadt. Auf der linken Seite das Bürgerbüro der AfD, rechts vereinzelt Kunden bei H&M. Es ist wenig los an diesem Montag Mitte August bei grauem Himmel und leichtem Nieselregen. Görlitz ist der Landkreis in Deutschland mit den niedrigsten Löhnen.
Stilvoll, abgelegen, pragmatisch – so beschreibt Martha Kliemt Görlitz. Die fast 60.000 Einwohner zählende Kreisstadt war in ihrer Jugend der erste Anlaufpunkt, wenn sie etwas erleben wollte – Kino, Café, Kneipen, Freunde treffen. Nach dem Abitur zog Kliemt in den Westen, zum Studium ins bayerische Erlangen, später nach Berlin. Trotzdem liegt ihr Görlitz noch immer am Herzen. Bis heute ist sie etwa einmal im Monat in der Stadt.
Die AfD-Hochburg „Görliwood“
Fast so häufig sind Filmproduzenten in Görlitz. Bei Filmen wie „Inglourious Basterds“ oder „Der Vorleser“ diente die Stadt, die deshalb auch den Beinamen „Görliwood“ trägt, als Kulisse. So auch bei „The Grand Budapest Hotel“. Der Film wurde unter anderem im „Kaufhaus Görlitz“ gedreht. Das Warenhaus inmitten der Innenstadt wurde 1912 im Jugendstil an der Frauenkirche errichtet. Seit 2013 steht es leer. Es gehört inzwischen einem umstrittenen Investor, der mit rassistischen Äußerungen über Geflüchtete für Empörung sorgte. So verbot er 2014 ein Benefizkonzert für Geflüchtete im Kaufhaus, weil er den „Missbrauch des Asylrechts“ nicht unterstützen wollte.
Mit Sorge blickt Martha Kliemt auf die politische Entwicklung in Görlitz. Bei der Kommunalwahl Ende Mai haben 30,8 Prozent die rechtsextreme AfD gewählt, nur etwas mehr als zwei Prozent die SPD. „Manchmal laufe ich mit einem komischen Gefühl durch die Stadt. Denn ich weiß, manches hat sich verändert. Viele Menschen haben andere politische Ansichten als sie früher hatten.“ Auch wenn es dieselben Menschen geblieben sind, ist vieles offensichtlicher geworden. Görlitz hat nun den Ruf als rechte Hochburg. Kliemt fällt es schwer, die Argumentation vieler Menschen nachzuvollziehen, die klagen, dass es ihnen so schlecht gehe und sie deshalb AfD wählten. „Warum bin ich links und die rechts?“, fragt sie sich. Eine Antwort darauf hat sie noch nicht gefunden: „Manchmal denke ich einfach, dass ich Glück hatte.“
Fast wäre die östlichste Stadt Deutschlands auch die erste mit einem Oberbürgermeister von der AfD gewesen. Nur durch die Unterstützung von Grünen, Linken und SPD wurde der CDU-Kandidat Octavian Ursu Mitte Juni ganz knapp in der Stichwahl zum neuen Görlitzer Stadtoberhaupt gewählt. Der unterlegene AfD-Bewerber Sebastian Wippel ist 36 Jahre alt und Landtagsabgeordneter. Sein Konterfei prangt an diesem Tag von Plakaten auf dem Marktplatz. Die AfD hat hier einen Wahlkampfstand. Gestört werden die Rechtspopulisten nicht. Ein paar Passanten bleiben stehen, um sich zu informieren. Die AfD wirbt mit Slogans wie „Hol dir dein Land zurück“ und „Du, mein Deutschland“. Am Stand ausschließlich Männer. Ist das Deutschland?
300 Meter bis zur Grenze
Nur wenige hundert Meter vom Marktplatz entfernt führt die Altstadtbrücke von Görlitz ins benachbarte Zgorzelec auf der polnischen Seite der Neiße. Bis 1945 waren es zwei Teile derselben Stadt. Seitdem ist auf der anderen Seite ein anderes Land mit einer anderen Sprache und einer anderen Währung.
Kliemt erinnert sich daran, wie sie als Sechsjährige hier auf der Brücke stand. Damals, am 1. Mai 2004, anlässlich der EU-Osterweiterung. Polen und Deutsche feierten gemeinsam ein Fest der Völkerverständigung.
Seit wenigen Monaten prangt eine überdimensionierte Kamerasäule auf der Görlitzer Seite der Brücke, die mit großem Brimborium vom sächsischen Innenminister Roland Wöller (CDU) eingeweiht wurde. Drei Meter hoch, mit mehreren quadratischen Öffnungen. Die Anlage soll abschrecken, vor Kriminalität schützen, die Grenze sichern, wo keine sichtbar ist. „Das ist ein krasser Eingriff in die Freiheiten der Menschen. Ich glaube auch nicht, dass es viel gegen Kriminalität hilft“, kritisiert Kliemt.
Nachbarschaft mit Schwierigkeiten
Direkt hinter dem Brückenkopf auf der polnischen Seite ist ein Kiosk, in dem Deutsche günstig Zigaretten und Alkohol kaufen. Ein paar hundert Meter weiter ist eine Tankstelle, bei der ein Liter Super umgerechnet nicht einmal 1,20 Euro kostet. Viele deutsche Kennzeichen, aber wenige gemeinsame Begegnungen. 15 Jahre nach der EU-Osterweiterung dominierten weiterhin Vorurteile wie das von den kriminellen Nachbarn aus Polen den gegenseitigen Austausch, sagt Kliemt..
Immerhin: Im vergangenen Jahr feierten Görlitz und Zgorcelec gemeinsam ein Stadtfest. Polen und Deutsche stießen auf der Altstadtbrücke zum Schlager „Über sieben Brücken musst du gehn“ von Karat an. Martha Kliemt mochte die Atmosphäre sehr.
Die kreative Hoffnung
Ansonsten hält sie sich in Görlitz am liebsten im Café Herzstück in der Weberstraße auf. Zwischen gehäkelten Spitzendeckchen, alten Wohnzimmermöbeln und veganen Tortenstücken ist wenig Platz für AfD-Wähler. Das verdeutlicht schon der erste Blick in den Raum. An der Wand hängt ein Plakat, das für die Unteilbar-Demo in Dresden wirbt, bei der in der vergangenen Woche etwa 40.000 Menschen gegen Hass und Ausgrenzung auf die Straße gingen.
Ein Görlitz ohne Hass und Ausgrenzung – darauf hofft auch Martha Kliemt. Die Stadt biete sehr viel Potenzial, vor allem für die kreative Szene, die sich jenseits von Berlin und Leipzig verwirklichen wolle. „Ich fände es schön, wenn Görlitz all seine Chancen und Potenziale nutzen würde“, hofft Kliemt.
Einer dieser Orte ist das „Kühlhaus“, ein leer stehendes Industriegebäude am Stadtrand, seit zehn Jahren ein Ort für Kunst, Kultur und Bildungsangebote. Kliemt wünscht sich mehr solcher Angebote und vor allem, dass Görlitz seine Lage in der Mitte Europas besser nutzt. Nur knapp 150 Kilometer sind es bis nach Prag, genauso weit wie nach Breslau. Beide Städte sind näher als Berlin. Deswegen sagt Kliemt: „Es wäre ziemlich toll, wenn Görlitz zu einem paneuropäischen Zentrum wachsen könnte.“ Dann könnte sie sich auch vorstellen, wieder hierher zu ziehen.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo