Bei der Bundestagswahl 2009 haben so viele Bürger wie nie zuvor ihre Stimmabgabe verweigert. Auch bei dieser Wahl bekennen sich Menschen aller gesellschaftlichen Schichten zur Nichtwahl. Sozialphilosoph Oskar Negt und Regisseur Andres Veiel suchten im Akademie-Gespräch der Akademie der Künste am Mittwochabend nach Gründen für dieses politische Desinteresse.
Kanzlerin Merkel trägt eine Mitschuld an der Zunahme der Nichtwähler, sagte der Regisseur Andres Veiel. „Sie vermittelt dieses wohlige, sedierte Grundgefühl, dass die Krise weit weg ist und sie sich schon kümmert. Scheinbar lösen ja andere die Probleme und eigentlich geht es uns ja gut, warum soll ich da wählen gehen?“
Neben Merkels Politik des Unpolitischen nannte die Gesprächsrunde „Wählen gehen!“ in der Akademie der Künste an der außer Veiel, die Journalisten Mercedes Bunz und Mathias Greffrath, der Sozialphilosoph Oskar Negt, die Schauspielerin Kristin Meyer und der Präsident der Akademie der Künste Klaus Staeck teilnahmen, weitere Gründe für den Verzicht auf den Urnengang.
Dem Staat fehlt die Glaubwürdigkeit
Gesellschaftliche Bindungen und Loyalitäten brechen, urteilte Negt. „Die Kapitalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Subjekte führt dazu, dass sich die Bindungsbedürftigkeit verstärkt ohne dass die entsprechenden Angebote da sind.“ Rechtsextreme Gruppen bedienten dieses Bedürfnisses mit ihren Kameradschaften, was sich europaweit an dem Stimmengewinn von rechtsextremen Parteien zeige.
Weitere Ursachen, so die Gesprächsteilnehmer, seien die fehlende Glaubwürdigkeit in Politiker und Staat. Die Politik scheine ohnmächtig angesichts der Bedeutung der Wirtschaft. „ Man hat das Gefühl, die wahre Macht sitzt nicht im Parlament“, sagte Mercedes Bunz. Eine Einschätzung, die Veiel angesichts des NSA-Skandals teilte.
Angebliche Einheitssoße der Parteien
Vor allem Intellektuelle wie Sozialphilosoph Harald Welzer, der im Spiegel seine Nichtwahl verkündet hatte, verständen ihre Nichtwahl als Protest gegen die scheinbare „Einheitssoße der Parteien“. In zweierlei Hinsicht ein Trugschluss, befand Akademie-Präsident Klaus Staeck. „Das ist eine intellektuelle Anmaßung und völlige Selbstüberschätzung.“
Neben den intellektuellen standen die sozial abgehängten Nichtwähler im Fokus.Der Ausdruck des sogenannten „Wahlprekariats“, den Moderatorin Bascha Mika für diejenigen Wähler, die sich vor allem aus bildungs- und einkommensferneren Schichten zusammensetzt, verwendete, wurde sowohl auf dem Podium als auch im Publikum kritisch betrachtet. Man dürfe den Diskurs über Wahlenthaltung nicht als wohlfeilen Blick des Mittelstands auf vermeintlich Unterprivilegierte führen, mahnte Bunz an.
Dass das Akademie-Gespräch neben den Wunsch nach großen gesellschaftlichen Veränderungen auch konkrete Handlungsanweisungen gab, war Oskar Negt und dem Publikum zu verdanken. Während Negt vorschlug, die politische Krise in einzelne Krisenherde umzudeuten, damit aus diesen Handlungsfelder werden können, plädierte das Publikum für Volksentscheide und Parlamentssitze für Nichtregierungsorganisationen (NGOs).