Hamburg ist der einsame Spitzenreiter. Knapp alle drei Jahre gibt es in der Hansestadt einen Volksentscheid. Der jüngste über die Schulreform des schwarz-grünen Senats am 18. Juli war der
folgenschwerste. 39 Prozent der 1,3 Millionen Wahlberechtigten beteiligten sich an der Abstimmung, deren Ergebnis zum ersten Mal verbindlich war. Frühere Entscheidungen - wie etwa über den
Verkauf der städtischen Krankenhäuser 2004 - hatten lediglich meinungsbildenden Charakter.
"In keinem anderen Bundesland gab es so viele Volksbegehren und Volksentscheide in so kurzer Zeit", freut sich Michael Efler, Vorstandssprecher von "Mehr Demokratie".
Der gemeinnützige Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Recht der Bürger auf Volksabstimmungen durchzusetzen. Denn auch wenn das
Hamburger Beispiel Mut mache, gebe es in Sachen direkte Demokratie in Deutschland noch großen Nachholbedarf.
Hohe Hürden in Baden-Württemberg, Hessen und dem Saarland
"Die Volksabstimmungsetze sind in vielen Bundesländern reformbedürftig", kritisiert Efler. So mussten in Hamburg die Mitglieder der
Initiative "Wir wollen lernen!" 20 Prozent der Wahlberechtigten zur Stimmabgabe bewegen, ansonsten wäre das Volksbegehren - unabhängig vom Ausgang -
ungültig gewesen. Für Michael Efler ist daher klar: "Volksbegehren und Volksentscheide müssen so geregelt sein, dass die Bürgerinnen und Bürger das Instrument auch nutzen können."
Dass dies in vielen Bundesländern nicht gewährleistet ist, zeigt das Beispiel des bayerischen Volksentscheids zum Nichtraucherschutz.
Mit 61 Prozent wurde dort am 4. Juli ein Rauchverbot in allen öffentlichen Räumen beschlossen. Hätte der Volksentscheid dagegen in Berlin,
Niedersachsen oder Schleswig-Holstein stattgefunden, wäre er mit demselben Ergebnis am Zustimmungsquorum gescheitert, kritisiert Mehr Demokratie. "In Baden-Württemberg, Hessen und im Saarland
hätte die Nichtraucher-Initiative mit knapp 1,3 Millionen gesammelten Unterschriften aller Wahrscheinlichkeit nicht einmal den Volksentscheid erreicht, da die Unterschriftenquoren für ein
Volksbegehren dort zu hoch sind."
Anzahl der Volksentscheide steigt kontinuierlich
Vor dem eigentlichen Volksentscheid steht nämlich das so genannte Volksbegehren. Dieses müssen die Bürger mit einer ausreichenden, von Bundesland zu Bundesland unterschiedlichen Anzahl von
Unterschriften unterstützen. Erst wenn hier genügend Unterstützer zusammengekommen sind, gelangt das Volksbegehren zur letzten Stufe, dem Volksentscheid.
Trotz dieser teilweise recht hohen Hürden steigt die Anzahl der Volksentscheide seit den Neunzigerjahren rasant. Wurden bis 1989 nur 28 Verfahren gestartet, gab es in den letzten 20 Jahren
252. Nach Informationen von Mehr Demokratie fanden im vergangenen Jahr bundesweit 35 direktdemokratische Verfahren statt. Eines der Begehren,
"Pro Reli" für Religionsunterricht in Berlin, kam sogar zum Volksentscheid und wurde
schließlich abgelehnt.
Und auch in diesem Jahr scheint der Trend anzuhalten. So verzeichnete Mehr Demokratie im ersten Halbjahr 2010 zwölf Verfahren in sieben Bundesländern. "Davon sind vier Volksinitiativen bzw.
Anträge auf Volksbegehren und drei Volksbegehren neu gestartet." Wichtigstes Gebiet sei der Bereich Soziales und Bildung.
Mehrheit der Deutschen für bundesweite Volksentscheide
Doch obwohl sich die direkte Demokratie bei sinkenden Beteiligungen an Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen als Alternative zu etablieren scheint, sehen die Aktiven von Mehr Demokratie
noch Entwicklungsbedarf. "In zehn Bundesländern hat bisher noch kein einziger Volksentscheid stattgefunden", kritisieren sie. Und: "Deutschland ist mit dem fehlenden Volksentscheid auf
Bundesebene im europäischen Vergleich ein demokratisches Entwicklungsland."
Seit seiner Gründung 1988 setzt sich der Verein dafür ein, den Volksentscheid als Instrument der direkten Demokratie ins Grundgesetz aufzunehmen und damit auch bundesweit möglich zu machen.
Ein Ziel, das bei der Mehrheit der Bevölkerung auf große Gegenliebe stößt.
So sprachen sich in einer am Mittwoch veröffentlichten Forsa-Umfrage für
den "Stern" 61 Prozent für Volksentscheide auf Bundesebene aus.
In den Parteien dagegen ist die Meinung gespalten. Während 85 Prozent der Anhänger der Linkspartei für bundesweite Volksentscheide votierten, unterstützen bei CDU und CSU nur 47 Prozent das
Anliegen. SPD (64 Prozent), Grüne (63) und FDP (55) liegen dazwischen.
SPD will Verfassung für Volksentscheide öffnen
Kein Wunder also, dass SPD-Chef Sigmar Gabriel die langjährige Forderung seiner Partei nach bundesweiten Volksentscheiden bekräftigt: "Volksentscheide tragen dazu bei, dass mehr Menschen
beteiligt werden und die Parteien und Politiker für ihre Vorschläge mehr werben und kämpfen müssen", sagt Gabriel. "Das tut einer Demokratie gut." Der SPD-Vorsitzende möchte deshalb Verhandlungen
mit den übrigen Bundestagsfraktionen aufnehmen, um die Verfassung für Volksentscheide zu öffnen. 2002 scheiterte ein Vorstoß der damaligen rot-grünen Bundesregierung an der notwenigen
Zweidrittelmehrheit im Bundestag.
Die viel beschworene Gefahr eines Missbrauchs von Volksentscheiden sieht der Verein Mehr Demokratie unterdessen nicht. "Das Volk müsste sich an die gleichen gesetzlichen Rahmenbedingungen
halten wie das Parlament", betont Michael Efler. Artikel 1 und 20 seien durch die so genannte Ewigkeitsklausel geschützt. "Weder das Volk, noch die Parlamentarier könnten also Gesetze
beschließen, die die Menschenwürde verletzen oder sich gegen Demokratie und Rechtsstaat richten."
Auch der Verweis auf die Weimarer Republik und die Herrschaft der Nationalsozialisten scheint daher müßig. "Es gibt nach über 60 Jahren Demokratie keinen triftigen Grund mehr, den Menschen
das Bedürfnis nach Volksabstimmungen über bundespolitische Themen abzuschlagen."