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ver.di-Streik und Corona: Versorgung in der Pflege nicht in Gefahr

Angelika Schwermer war lange in der Krankenpflege tätig. Dort denken viele, dass Patient*innen leiden, wenn sie sich für ihre Rechte engagieren. Doch selbst im Streikfall ist die Versorgung nicht in Gefahr, sagt sie. Mehr Geld sei aber notwendig.
von Vera Rosigkeit · 20. Oktober 2020
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Mitten in der Corona-Pandemie erhöht die Gewerkschaft ver.di den Druck im Tarifstreit des öffentlichen Dienstes. Ein guter Zeitpunkt?

Der Streik ist wichtig und muss auch jetzt in der Corona-Zeit stattfinden. Leider sind die Pflegenden gewerkschaftlich oder auch in den Berufsverbänden sehr schwach organisiert. 

Hat das mit den Arbeitsbedingungen zu tun?

Viele Beschäftigte in der Pflege haben es nicht gelernt, für eigene Interessen einzustehen. Viel zu schnell denken sie, dass die Patient*innen leiden, wenn wir uns für unsere Rechte oder bessere Arbeitsbedingungen engagieren. Damit werden wir moralisch unter Druck gesetzt und es ist mit ein Grund für die vielen Mehrstunden. Die wir übrigens nur schlecht abbauen können. Und es ist sehr schwer, sich von diesem Gefühl frei zu machen. Auch wenn man weiß, dass es sich eigentlich um ein Systemproblem handelt, weil es keine adäquate Personalbemessung gibt und damit zu wenig Zeit für Patient*innen und Bewohner*innen. Wenn man aber immer Rücksicht nimmt, wird es nicht besser.

Zurück zum Streik unter Corona-Bedingungen. Wird nicht jede Pflegekraft gebraucht?

Es sind nur wenige am Streik beteiligt. Denn wenn Pflegekräfte streiken, muss die Versorgung durch eine Mindestbesetzung gewährleistet sein. Andernfalls wäre gar kein Streik möglich. Und ich muss dazu sagen, dass ich schon oft in meinem Berufsalltag mit weniger Personal gearbeitet habe, als es eine Mindestbesetzung im Streikfall vorsieht. Die Versorgung ist auf jeden Fall nicht in Gefahr. Und mehr Geld ist absolut notwendig. Man kann Pflegekräfte nicht mit einem Mindestlohn abspeisen.

Lange wurde ja gerade in der Pflege auf dem Rücken der Beschäftigten gespart. Gibt es da finanziell auch Nachholbedarf?

Die Arbeitsbelastung in den vergangenen Jahren ist enorm gewachsen. Einsparungen in den Krankenhäusern sind oft mit Personalabbau einhergegangen. Da sind Arbeitsabläufe mit der Stoppuhr gemessen worden, um Zeit einzusparen und Pflege effizienter zu gestalten. Die Rechnung geht aber nicht auf. Unsere Patient*innen sind älter und kränker geworden. Es braucht einfach mehr Zeit, eine 85-jährige Patientin auf eine OP vorzubereiten als eine 40-jährige. Und wenn man dann als Pflegekraft nur unter Zeitdruck steht, ist das einfach nicht gesund.

ver.di fordert 4,8 Prozent, reicht das in der Pflege?

Nein. Pflege ist nicht gleich Pflege. Zunächst brauchen die Pflegenden in Alten- und Pflegeheimen und der ambulanten Pflege flächendeckende Tarifverträge mit einer Bezahlung deutlich über Mindestlohn. Dann muss für alle Beschäftigten, auch in den Krankenhäusern, das Grundgehalt deutlich angehoben werden. Ich habe fast 40 Jahre in der Intensivpflege und Anästhesie gearbeitet, mit hohem persönlichen Einsatz im Schicht- und Bereitschaftsdienst und fortlaufender Weiterbildung. Es kann nicht in Ordnung sein, nur mit Diensten zu ungünstigen Zeiten oder einem Nebenjob in einer Großstadt die Miete zahlen zu können.

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Vera Rosigkeit

hat Politikwissenschaft und Philosophie in Berlin studiert und ist Redakteurin beim vorwärts.

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