Inland

Unter der Oberfläche

von Dorle Gelbhaar · 31. Mai 2010
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Landolf Scherzers Reise beginnt im südungarischen Harkany und sollte ursprünglich durch sieben osteuropäische Länder führen. Eine Fahrt zu zweit auf einem Traktor sollte es sein. Aber das altersschwache Gefährt des gewünschten Weggefährten Willi hat den Dienst aufgegeben und überhaupt ist dieser von dem Tripp abgekommen.

Nicht so der unbeirrbare thüringische Autor. Und das obwohl ein weißhaariger südungarischer Kellner ihm ans Herz gelegt hatte, das Vorhaben, mehr als 400 Kilometer durch Kroatien und Serbien und Rumänien zu wandern, doch noch einmal zu überdenken. Der Thüringer hätte im schönen Harkany bleiben und dort das Leben genießen können. Stattdessen bricht er mit seiner schweren Kraxe auf dem Rücken zu Fuß auf. Zuvor haben der Kellner und er noch um 10 Flaschen Rotwein gewettet. Eine ganz spezielle CD Béla Bartóks soll der Deutsche aus dem Museum von Sánnicolau Mare mitbringen - zum Beweis dessen, dass er die Strecke tatsächlich geschafft hat.

Unmittelbares Erleben

Landolf Scherzer ist ein kritischer und detailversessener Autor. Das wissen seine Leser und Leserinnen noch aus DDR-Zeiten. Nach der Wende bleibt er sich treu. Er begnügt sich nicht mit Oberflächlichem, sondern fragt nach. Seine Geschichten sind stets authentisch, oft reportageartig. Scherzer kennt keine Berührungsängste. Auch in seinem jüngsten Buch schildert er unmittelbar Erfahrenes.

Warum kam es in Jugoslawien zum Bürgerkrieg? Warum wandten sich Menschen gegeneinander, die kurz zuvor noch friedlich-nachbarschaftlich, oft sogar freundschaftlich, miteinander verkehrten? Wer das wissen will, der sollte Scherzers Buch lesen. Er fragt die ihm Begegnenden nach ihren Meinungen und danach, was ihnen persönlich widerfuhr.

Dabei belässt er es jedoch nicht: Er vergleicht, ordnet ein, gibt einen historischen Abriss des Geschehens in Jugoslawien, der sehr weit zurückreicht. Es wird deutlich, wie schwelende Konflikte auch auf Zeiten zurückgehen, in denen zum Beispiel Serben und Kroaten auf verschiedenen Seiten kämpften. Auch nach der Rolle Deutschlands fragt der Autor und muss sich manch kritischen Ton anhören. Aber fast überall findet er Menschen, die ihm ein Nachtlager anbieten und bereit sind, von sich zu erzählen - ganz gleich, ob sie Serben, Deutsche, Ungarn, Kroaten oder Roma sind.

Wechselvolle Historie

Die Reise führt den Autor auch in die Vergangenheit deutscher Familien im heutigen Serbien, z.B. zu der von Hilda Banski. Sie ist trauriges Beispiel dafür, wie diese nach Kriegsende oft stellvertretend für die deutschen Faschisten büßen mussten. Hilda Banski, zu dieser Zeit noch ein kleines Kind, blieb trotzdem in Serbien, wo sie und ihr Bruder nach der Deportation ihrer Mutter und dem Leben in Lager und Kinderheim bei serbischen Verwandten ein neues Zuhause gefunden hatte. Sie wollten auch nicht zur Mutter, die sich Anfang der 50er Jahre in Deutschland ansiedelte, sich wieder verheiratete und noch zwei Kinder bekam. Erst Jahre später sahen sie sich wieder.

Ein Problem ist es allerdings heute noch für Hilda Banski, dass sie, als sie dann 1993 doch um Aufnahme in Deutschland bat, abgelehnt wurde. All das Leid, das sie als winzig kleines deutsches Kind nach Kriegsende unschuldig erduldete … Müsste sie nicht ohne Schwierigkeiten in das Land, dem ihre Familie entstammt, einreisen dürfen? Muss sie sich entschuldigen dafür, dass sie vor der Wende die serbische Familie nicht allein lassen wollte, die ihr und ihrem Bruder geholfen hatte? Nun steht sie da mit dem serbischen Pass und fühlt sich wie eine "Aussätzige", die wiederum unschuldig für andere büßen muss und die Folgen des Wirtschaftsembargos mit zu verkraften hat.

Am Ende gewinnt Scherzer seine Wette. Bis dahin hat der Leser einiges an Wissen über das Leben einfacher Menschen in den bereisten Ländern gewonnen.

Landolf Scherzer: "Immer geradeaus. Zu Fuß durch Europas Osten", Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2010, 304 Seiten, 19,95 Euro, ISBN 978-3-351-02715-5

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Autor*in
Dorle Gelbhaar

ist freie Autorin, Vorstandsmitglied des Verbands deutscher Schriftsteller im ver.di-Landesverband Berlin sowie stellvertretende Vorsitzende des Kulturwerks Berliner Schriftsteller e. V.

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