Ungleichheit in Deutschland: Ständig droht die Armut
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Die Wirtschaft brummt, die Konjunktur läuft stabil, auch die Reallöhne steigen im Durchschnitt zumindest moderat. Also alles in Butter? Von wegen: Wie der jüngste Verteilungsberichts des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) aufzeigt, existiert in Deutschland nach wie vor eine enorme wirtschaftliche und damit auch soziale Ungleichheit. Auf einer Pressekonferenz zur Vorstellung des Berichts präsentierten die Vertreter des in der Hans-Böckler-Stiftung angesiedelten Institus am Dienstag auch aber auch konkrete politische Lösungsvorschläge.
Rechenexperiment zeigt Folgen der Ungleichheit in Deutschland
„In Deutschland wird viel über Einkommen und wenig über Vermögen geredet“, bemängelte Annke Hassel vom WSI. Die Forscher erschufen daher für ihre neueste Studie ein rechnerisches Gedankenexperiment: Wie lange können deutsche Haushalte ausschließlich von ihrem angesammelten Vermögen leben, wenn das gesamte Einkommen von heute auf morgen wegfallen würde? Die Ergebnisse lassen aufhorchen: Über 30 Prozent der Haushalte könnten nur wenige Monate, oft sogar nur Wochen von Ersparnissen leben. Der Mittelwert liegt bei knapp unter zwei Jahren. Dagegen könnten auf der anderen Seite 10 Prozent der Haushalte um die 13 Jahre, die obersten 5 Prozent sogar 21 Jahre von ihren Vermögen zehren.
In den neuen Bundesländern seien dabei die Konsumausgaben, aber auch der Vermögensaufbau generell geringer. Besonders betroffen seien Alleinerziehende. Für die Berechnungen mussten die Forscher des WSI einige Annahmen treffen: Neben gleichbleibenden Konsumausgaben gingen sie davon aus, dass wirklich alles Vermögen in Anspruch genommen wird, und ignorierten die Existenz staatlicher Grundsicherung: Um die in Anspruch nehmen zu können, müsste zunächst alles Vermögen aufgebraucht werden, verteidigt WSI-Vertreterin Anita Tiefensee die Herangehensweise.
Deutschland gehört bei der Ungleichheit zu den Spitzenreitern
Die Ergebnisse überraschen nicht: Der als Maß für Ungleichheit verwendete Gini-Koeffizient, darauf wies auch Anke Hassel hin, liegt für Deutschland Stand 2016 mittlerweile bei einem Wert von 0,78, Tendenz steigend. Ein Wert von 0 beim Gini-Koeffizienten würde eine totale Gleichverteilung des Vermögens, ein Wert von 1 die Konzentration des gesamten Vermögens bei einer Person bedeuten.
Deutschland liegt nach Daten des Schweizer Finanzdienstleisters Credit Suisse damit im globalen Vergleich auf Platz 13 und gehört zur Gruppe der Spitzenreiter in Sachen Ungleichheit. In Europa erreicht nur Schweden einen noch höheren Wert. Spitzenreiter ist Russland mit dem Extremwert von 0,92. Die USA liegen mit 0, 86 auf Platz 3 – gar nicht mal so weit entfernt von Deutschland.
„Vermögen ermöglicht Sicherheit und Wahlfreiheit“, sagte Anke Hassel. Dass ein substantieller Teil der Bevölkerung über keinerlei Rücklagen verfügt, habe enorme politische und gesellschaftliche Implikationen. Vermögen ermögliche ausreichende Investitionen in Ausbildung und die Altersvorsorge, das Einsparen von Konsumausgaben wie der Miete, Vererbung im großen Stil und eben auch: Politische Macht.
Forscher empfehlen Förderung von Immobilienerwerb
Als politische Antwort auf das Problem empfehlen die Autoren der Studie unter anderem: Tarifbindung von Einkommen, Erhöhung der Schonvermögen für Empfänger von staatlichen Leistungen und Förderung von kostenlosen Betreuungsangeboten für Kinder. Ein Vorschlag, der nicht unumstritten sein dürfte: Der Staat solle den Immobilienerwerb auch für mittlere Einkommensgruppen fördern. Immobilien seien ein geeignetes Mittel zur Vermögensbildung, das zeigten Erfahrungen in anderen Staaten.
Dabei führte in den USA im Jahr 2007 der großflächige Erwerb von Immobilien durch Menschen aus einkommensschwächeren Gruppen zur wirtschaftlichen Katastrophe: Die Immobilienblase platzte, Millionen Menschen konnten ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen. Es folgte von den USA ausgehend die globale Finanz- und Wirtschaftskrise. Konfrontiert damit, ruderten die Forscher etwas zurück: Wichtig sei vor allem im Allgemeinen, dass untere und mittlere Einkommensschichten wieder mehr Vermögen bilden. Das hat auch rein politische Gründen: Studien hätten gezeigt, dass gerade Menschen aus der unteren Mittelschicht mit Existenzängsten vermehrt rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien wählen würden.
ist bis zum 1. Dezember 2017 Praktikant in der Redaktion des vorwärts. Der gebürtige Hamburger studiert Politikwissenschaft im Master an der Freien Universität Berlin.