Weil es in Frankreich keine Lehrstellen für sie gibt, zieht es junge Franzosen zur Ausbildung ins Nachbarland Deutschland. Eine neues Projekt unterstützt sie dabei.
Nein, so richtig glücklich ist Maryline Frisch mit ihrer Ausbildung als Kauffrau im Einzelhandel nicht. „Lieber hätte ich etwas mit Kindern gemacht“, sagt sie. Auch ihre Arbeitsbekleidung mag die 20-Jährige Französin nicht. Dennoch trägt sie die hellblaue Hemdbluse mit der dunkelblauen Fliege und die lange Schürze jeden Morgen, wenn ihr Vater sie über die deutsch-französische Grenze ins 16 Kilometer entfernte Binzen nach Südbaden zu ihrer Arbeitsstelle fährt.
Ihre Mutter habe ihr gesagt: „Du gehst dahin, wo es Arbeit gibt“, erzählt die junge Frau und eine Ausbildung gab es für Frisch in ihrer elsässischen Heimatstadt Hégenheim nicht. Weder als Erzieherin, noch als Einzelhandelskauffrau. Die Jugendarbeitslosigkeit lag im vergangenen Dezember in Frankreich bei 25,6 und damit noch über dem europäischen Schnitt von 23,9 Prozent. Über ihre Schule hat Frisch eine Ausbildung in einem Hieber-Markt, einem Supermarkt, in Deutschland vermittelt bekommen. Damit ist sie auf ihrem Berufsweg Pionierin: Gemeinsam mit ihrem Arbeitskollegen Joel Weber gehört sie zu den ersten Teilnehmern des im September gestarteten Programms „Grenzüberschreitende Ausbildung am Oberrhein“.
Praktisch werden die beiden Franzosen in Deutschland ausgebildet. Hier lernen sie, Kunden zu beraten und zu bedienen, Waren zu bestellen und einzulagern. In Frankreich besuchen sie die Berufsschule und legen dort auch ihre Abschlussprüfungen ab. Lassen sie sich zusätzlich in Deutschland prüfen, werden ihre Ausbildungen in beiden Ländern anerkannt. So sieht es eine Rahmenvereinbarung vor, die im September 28 Partner der Region, wie die Industrie- und Handelskammern sowie die deutsche und die französische Arbeitsagentur, unterzeichnet haben.
An Deutschland muss man sich erst gewöhnen
Auch Peter Friedrich, Europaminister in Baden-Württemberg, hat die Richtlinie unterschrieben (zum Interview). „Die grassierende Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, ist die wichtigste Aufgabe für die Zukunft Europas“, sagt er. Da sein Bundesland die geringste Jugendarbeitslosigkeit in der ganzen EU habe – im Februar lag sie bei 2,9 Prozent – und die Wirtschaft dringend Fachkräfte brauche, könne mit der grenzüberschreitenden Ausbildung jungen Menschen aus Frankreich eine Zukunftsperspektive in Deutschland gegeben werden.
„So können wir gleichzeitig die künftigen Berufspendler ausbilden und die Vorteile des bewährten dualen Ausbildungsmodells für den Oberrhein nutzen.“ Es sei eine „große Herausforderung“, so Friedrich, ein Bewusstsein für die Karrierechancen in Deutschland zu schaffen. „Die Ausbildungssysteme und -traditionen in Deutschland und Frankreich sind unterschiedlich. Jenseits des Rheins streben Jugendliche nach wie vor eher eine universitäre Ausbildung an und halten duale Ausbildungen mit einem betrieblichen Teil für weniger attraktiv und chancenorientiert.“ Außerdem wüssten junge Menschen oftmals wenig darüber, wie es sich im Nachbarland leben und arbeiten lässt.
Einige Eingewöhnungsschwierigkeiten hatte zu Ausbildungsbeginn auch Maryline Frischs Kollege, der 18-jährigen Joel Weber. Etwa bei der Sprache: So holte der Sohn französisch-schweizerischer Eltern eine Feige (französisch: figue) aus der Obstabteilung, als er gebeten wurde den Boden zu fegen. Das Wort „fegen“ war ihm eben nicht gebräuchlich, erzählt der Jugendliche lachend.
Auch kulturell musste sich Weber erst zurechtfinden: „Hier ist viel mehr Energie. Immer heißt es: ‚Schaffe, schaffe!’. In Frankreich ist alles ein wenig leichter.“ Die deutsche Wochenarbeitszeit von 40 statt der in Frankreich üblichen 35 Stunden findet er gewöhnungsbedürftig. Dennoch gefällt ihm die Ausbildung. „Die Sauberkeit, die Hygiene, das ist viel besser als in Frankreich.“ Die Sprachkenntnisse sind ihm wichtig, damit er später im Dreiländereck Deutschland–Frankreich–Schweiz eine Arbeitsstelle findet.
Trotz der besseren beruflichen Chancen im Nachbarland bedeutet der Gang über die innereuropäische Grenze eine Überwindung für viele Jugendliche. Zwar ist ein Europa ohne Grenzkontrollen für sie selbstverständlich – aber als Europäer begreifen sie sich dennoch nicht. Die europäische Identität kommt nach der nationalen. „Wir sind Franzosen“, sagen Frisch und Weber einhellig.
Handwerk in Not
Damit die grenzüberschreitende europäische Ausbildung alltäglicher wird, investiert die Region Elsass zehn Millionen Euro in das Programm. Darin enthalten ist die Bewerbung des Projekts in Schulen und auf Ausbildungsmessen mit dem Slogan „Erfolg ohne Grenzen“. Zusätzlich soll ein zentraler Anlauf-Schalter eingerichtet werden, an dem sich Jugendliche direkt über Ausbildungsmöglichkeiten im Nachbarland informieren können. „Wir wollen langfristig 1000 junge Menschen in Arbeit bringen“, erklärt der Leiter der Stabsstelle im Regierungspräsidium Freiburg Jürgen Oser. Vor allem im Metallbereich und im Handwerk sei der Bedarf an Auszubildenden sehr groß.
„Das Ziel wäre für mich, dass sich einige der jungen Menschen später, wenn sie Meister sind, in ihrem Heimatland selbstständig machen und dort wiederum Arbeitsplätze schaffen“, sagt Oser. „Das halte ich für ganz wichtig, damit die Ausbildung keine Einbahnstraße und kein Braindrain wird.“ Eine einseitige Abwanderung von gut ausgebildeten Fachkräften soll es nicht geben.
Auch Maryline Frisch und Joel Weber wünschen sich für ihre Zukunft eine Arbeitsstelle in Frankreich oder in der Schweiz. „Oder doch was mit Kindern“, fügt die junge Französin zögernd hinzu. „Wenn ich fertig bin mit der Ausbildung, dann mach ich das vielleicht noch.“