In seiner Begrüßung stellte Frank-Walter Steinmeier fest, dass die Diskussion um Identitäten und Integration nicht neu sei, indem er an die Debatten um die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft und der "Green Card" erinnerte. Doch gleichzeitig merkte er an, dass die Frage neuerdings intensiver und schärfer diskutiert werde - er verwies etwas nebulös auf eine in jüngster Zeit vermehrt erscheinende "Empörungsliteratur".
Nationale Identität nach Sarrazin
So blieb es Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, vorbehalten, Ross und Reiter zu nennen: Wohl zutreffend stellte er fest, dass vor allem der Bestseller
des ehemaligen Bundesbankiers und Berliner
Finanzsenators Thilo Sarrazin den öffentlichen Diskurs über die nationale Identität angefacht habe.
Dessen Biologismus bezeichnete Schirrmacher als "irregeleitet", äußerte aber gleichzeitig seine Verwunderung über die politischen Reaktionen auf das Buch. Ausführlich legte er dar, dass die
Identitätsdiskussion in seinen Augen demographische Gründe habe - sie sei ein Symptom der Demographie, Ausdruck der Verunsicherung einer überalternden Gesellschaft.
Einen völlig anderen Zugang zur Leitfrage des Abends wählte die zweite Hauptrednerin. Die Publizistin Hilal Sezgin, bekannt aus taz und ZEIT, griff zum wohlfeilen Gemeinplatz: "Ich bezeichne mich nicht als deutsch, weil ich eine linke Deutsche bin." Ihre dann folgende Tour de Force durch Geschichte und Gegenwart, in der weder das Heilige Römische Reich noch Goethe, weder Waffenexporte noch Agrarsubventionen unerwähnt blieben, führte sie zu der abschließenden Feststellung, dass die Frage nach dem Deutschsein nicht kultureller, sondern politischer Natur sei.
Typisch deutsch
Beide Referate boten nur wenige Anknüpfungspunkte für das Podiumsgespräch. So machte sich eine Talkshowatmosphäre breit, in der Moderatorin Daniela Milutin die international erfolgreiche
Unternehmensberaterin
Amel Karboul, Berlins Innensenator Dr. Ehrhart Körting und Farhad Dilmaghani von der European School of Management and Technology befragte. Und so
unterschiedlich die Talkgäste waren, so unterschiedlich fielen naturgemäß auch die Antworten aus: Die Unternehmerin Karboul sprach aus der Perspektive einer kosmopolitischen Elite und stellte
klar: "Ich brauche es nicht, dass man mich irgendwie nennt." Der Politiker Körting hingegen verwies auf die Literaten Günter Grass, Rafik Schami und Wladimir Kaminer, den Dirigenten Rattle und
den Rennfahrer Vettel und den für ihn deutschesten aller Könige, Friedrich II. von Preußen, der selbst nur französisch sprach.
Das führte zu der sympathischen Feststellung, dass gerade ein gewisses Durcheinander typisch für Deutschland, mithin deutsch sei. Dies schien man als Appell zu verstehen: In der Folge entspann
sich ein angeregtes Gespräch über die Repräsentanz von Migranten und deren Nachkommen in Verwaltung und Polizei, Kopftücher, Kinderbetreuung und Religion. Eine Randbemerkung Farhad Dilmaghanis
ging darin beinahe unter, obwohl sie den Stand der Dinge an diesem Abend auf den Punkt brachte: "Wir haben noch gar nicht richtig angefangen, miteinander zu sprechen". Zugleich warf er eine
richtige und aus sozialdemokratischer Perspektive wichtige Frage auf: "Werden hier nicht unter ethnischen Gesichtspunkten Probleme diskutiert, die eigentlich sozialer Natur sind?"