Die Beziehungen der Schweiz zur EU stehen vor einem Wendepunkt: Während die Bürger immer EU-skeptischer werden, fordert Nationalrat Martin Naef (SP) (r.) den EU-Beitritt. Tim Guldimann (l.), der Schweizer Botschafter in Berlin, sagt für die Berner Regierung: Wenn der bisherige Weg nicht mehr funktioniert, „sind andere Optionen zu prüfen – auch der Beitritt“.*
Herr Botschafter Guldimann (G), ist die Schweiz fremdenfeindlich?
G: Fremdenfeindlich?
Ja, diese Einschätzung gibt es in Europa. Befeuert zuletzt durch den Volksentscheid vom Februar 2014 „gegen Masseneinwanderung“, mit dem der freie Zugang von EU-Bürgern zum Schweizer Arbeitsmarkt beendet wurde.
G: Dem möchte ich die Integrationsleistung unserer Gesellschaft entgegenhalten. Ein Ausländeranteil von – mit den Grenzgängern – über 27 Prozent bedeutet in städtischen Ballungsgebieten, dass die Schweizer in der Minderheit sind. Und dennoch sind die Ausländer gut integriert. Wir haben keine Ghettoprobleme wie in europäischen Grossstädten. Aber die Zuwanderung schafft Ängste wegen der Konkurrenz auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und ein Gefühl von Heimatverlust. Hier liegen die Gründe für den knappen Erfolg der Initiative.
Wie europäisch ist es, den Schweizer Arbeitsmarkt für EU-Bürger zu reglementieren?
G: Europa ist nicht gleichzusetzen mit der EU. Europa ist eine Wertegemeinschaft und ich behaupte, die Schweiz trägt diese gemeinsamen europäischen Werte genauso mit wie alle anderen Staaten in Europa.
Weisen Sie also auch den Vorwurf aus Europa zurück, die Schweiz picke sich aus der EU die Rosinen heraus und verweigere europäische Solidarität?
G: Wir sind über bilaterale Verträge am europäischen Binnenmarkt angedockt. Und Verträge sind immer Ausdruck ausgeglichener Interessen. Sonst würden sie von der anderen Seite nicht unterzeichnet. Man soll jetzt nicht kommen und sagen, ihr Schweizer seid unsolidarisch, weil ihr euch nur bilateral am Binnenmarkt beteiligt. Das Problem liegt nicht in diesen Verträgen, sondern darin, dass der neue Verfassungsartikel und darin der Anspruch, über die Zuwanderung national zu entscheiden und sie zu beschränken, im Widerspruch mit der Personenfreizügigkeit stehen. Darüber wollen und müssen wir mit Brüssel verhandeln.
Herr Nationalrat Naef (N), welche Auswirkungen hatte der Volksentscheid „gegen Masseneinwanderung“ aus Ihrer Sicht?
N: Er war ohne Frage eine Zäsur in unseren Beziehungen zur EU. Die Personenfreizügigkeit ist eine große Errungenschaft, nicht nur der EU, sondern auch der Schweiz. Nun herrscht in der Schweiz eine große Ratlosigkeit. Ich bin nicht überrascht, dass die EU sehr irritiert ist. Auch Brüssel weiß nicht, wie es weitergehen soll.
Herr Guldimann, wie groß ist denn die Irritation der EU über die Schweiz?
G: Die Reaktion in Berlin war: Das widerspricht einem Grundprinzip des Binnenmarktes, an dem ihr Schweizer euch über bilaterale Verträge beteiligt. Wenn ihr dieses Prinzip nicht respektiert, habt ihr ein Problem. Aber ihr habt ja Zeit bis zum 9. Februar 2017. Und wir wollen euch nicht vorauseilend bestrafen, aber wir erwarten, dass ihr eine Lösung findet. Wir sind gerne bereit, euch zu helfen, aber die Lösung müsst ihr selbst finden.
Herr Naef, wie könnte eine Lösung aussehen?
N: Ich glaube, was allenfalls denkbar sein könnte ist, dass man über die konkrete Ausgestaltung der Personenfreizügigkeit spricht. Verhandelbar ist diese Grundfreiheit nicht. Die Schweizer täuschen sich über die Bedeutung und das Wesen dieser Grundfreiheit in der Europäischen Union. Sie unterschätzen den starken Grundkonsens in der EU an diesem Prinzip festzuhalten.
Herr Guldimann, aus Brüssel heißt es: „Wir geben nicht die wichtigste Errungenschaft der europäischen Einigung, die Personenfreizügigkeit, wegen einer Abstimmung in einem Nicht-EU-Land auf.“ Können Sie das verstehen?
G: Natürlich, eine Lösung ist nur möglich, wenn wir die Haltung der anderen Seite auch verstehen. Dazu kommt, dass sich diese ja nicht einfach gegen uns richtet. Vielmehr will man in Deutschland die Frage der Personenfreizügigkeit nicht innenpolitisch zum Thema machen. Gleichzeitig fürchtet man Schweizer „Extrawürste“, weil dann auch andere, zum Beispiel die Engländer, Extrawürste in der EU fordern. Das macht die Sache so schwierig.
Welche Rolle spielen denn die Auseinandersetzungen um den Bankenplatz Schweiz in den bilateralen Beziehungen zwischen Bern und Brüssel?
N: Wir haben das Problem weitgehend gelöst, der Bankenplatz Schweiz ist heute „sauber“ und keine „Steueroase“ mehr, wie er das vielleicht bis vor wenigen Jahren noch war. Wir haben das schon vor 30 Jahren gesagt als Sozialdemokratie. Wir haben sogar vor Reputationsschäden für die Schweiz insgesamt oder für den Finanzplatz, der als sauberer Finanzplatz für die Schweiz wichtig ist, gewarnt. Man mochte uns damals nicht hören.
Herr Naef, Sie sind nicht nur Nationalrat, sondern auch Präsident der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs). Diese überparteiliche Organisation setzt sich für einen vollständigen EU-Beitritt der Schweiz ein. Wäre der denn überhaupt mehrheitsfähig?
N: Ich wäre nicht Sozialdemokrat oder überhaupt nicht Politiker, wenn ich mich ausschließlich für Dinge einsetzen würde, die bereits mehrheitsfähig sind. Jetzt geht es um ein Ende dieses bilateralen Weges. Da stürzt vielleicht etwas zusammen. Das wäre gefährlich. Deshalb muss man auch über die Option eines Beitrittes diskutieren. Dass das morgen nicht mehrheitsfähig ist, ist mir völlig klar, aber vielleicht übermorgen oder überübermorgen.
G: Heute wollen drei Viertel der Schweizer die Fortsetzung des Bilateralismus. Deshalb ist es jetzt unsere erste Aufgabe, diesen Weg fortzuführen.
Warum wollen Sie diesen Weg nicht weitergehen, Herr Naef?
N: Weil er dauerhaft nicht funktioniert. Und weil er uns eine Souveränität vorgaukelt, die wir nicht mehr haben. So beinhaltet der Bilateralismus den „autonomen Nachvollzug“. Das ist ein Unwort. Es bedeutet: Wir müssen das EU-Recht in Schweizer Gesetze umsetzen, eins zu eins. Das ist eigentlich eines Landes, das dauernd seine Souveränität betont, nicht würdig. Souverän ist, wer Einfluss nehmen kann, zumindest auf Entscheidungen, die ihn betreffen. Das können wir aber nur, wenn wir Mitglied der EU sind. Nur dann werden wir gefragt, nur dann können wir mitentscheiden.
Ist das auch die offizielle Position der Regierung in Bern?
G: Die Regierung setzt auf den Bilateralismus. Wenn er aber nicht mehr funktioniert, und das hat die schweizerische Regierung auch gesagt, dann sind andere Optionen zu prüfen, dann auch – so sagt es explizit der Bundesrat – der Beitritt.
N: Die offizielle Position der Schweiz ist immer noch das gestellte Beitrittsgesuch von 1992. Der Bundesrat, also unsere Regierung, hat noch Mitte 2000 bestätigt: Das ist das strategische Ziel der Schweiz. Das Parlament hat sich mehrfach geweigert, dieses Gesuch zurückzuziehen. Das heißt, der EU-Beitritt ist nicht vom Tisch, er ist auf der Tagesordnung.
* Martin Naef (N) ist als Nationalrat Mitglied des Schweizer Parlamentes für die SP, die Sozialdemokratische Partei der Schweiz