Thüringen: Wie Rot-Rot-Grün auch ohne eigene Mehrheit regieren will
Am Mittwoch haben sich SPD, Linkspartei und Grüne in Thüringen auf einen Vertrag für eine Minderheitsregierung geeinigt. Sind Sie mit den Inhalten zufrieden?
Ja, ich bin sogar sehr zufrieden – vor allem vor dem Hintergrund, dass wir ja keinen klassischen Koalitionsvertrag vereinbart haben. Wir mussten die Balance finden, einerseits rot-rot-grüne Projekte für die kommenden Jahre zu beschreiben und andererseits im Blick zu behalten, dass wir Mehrheiten im Landtag nur mit einer offenen Tür zu CDU und FDP erreichen. Deshalb haben wir auch zwei Arten von Vorhaben: diejenigen, die sich aus den Wahlprogrammen von SPD, Linkspartei und Grünen ergeben – Rot-Rot-Grün pur sozusagen – und diejenigen, die zwar auch eine rot-rot-grüne Handschrift tragen, von denen wir aber auch annehmen, dass sie für CDU und FDP tragbar sind. In der Präambel zu unserem Vertrag beschreiben wir zudem, wo die Aufgabefelder im Allgemeinen sind. Der Vertrag ist deshalb auch ein Gesprächsangebot an CDU und FDP, mit uns gemeinsam die Herausforderungen des Landes anzunehmen.
Denken Sie, CDU und FDP werden dieses Angebot annehmen?
Ich bin sehr guter Hoffnung, denn es gibt gute Anzeichen für eine gelingende Zusammenarbeit. Mit CDU und FDP haben wir vereinbart, dass bereits jetzt Gespräche zwischen der geschäftsführenden Finanzministerin und Vertretern von CDU und FDP über die Ausgestaltung des Landeshaushalts 2021 und ggf. 2022 stattfinden werden. Das zeigt aus meiner Sicht, es ist möglich, sowohl mit der Fraktion der CDU als auch der der FDP konstruktive Gespräche zu führen.
Trotzdem bleiben ja beide Parteien bei ihrer kategorischen Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei – sei es in der Regierung oder über die Tolerierung einer Minderheitsregierung.
Das stimmt. Wir wissen das ja bereits seit vergangenem November und an dieser Haltung hat sich seither auch nichts geändert. Die Ablehnung geht sogar so weit, dass CDU und FDP sagen, sie werden nichts dafür tun, das Projekt Rot-Rot-Grün zu verlängern. Das müssen wir akzeptieren. Zum ersten Mal gibt es damit in Thüringen eine Minderheitsregierung, die über keinerlei Form der Tolerierung oder Duldung verfügt. Deshalb ist unser Bestreben, in einem Thüringer Modell einerseits die Bevölkerung stärker einzubeziehen und andererseits mit konkreten politischen Projekten Mehrheiten im Landtag jenseits der AfD zu organisieren. Das wird sicher nicht leicht, könnte aber, wenn es gut läuft, sogar eine Blaupause werden für andere Landesregierungen in den kommenden Jahren.
Was bedeutet die stärkere Einbindung der Bevölkerung für das Agieren der neuen Regierung?
Wir werden die Bürgerinnen und Bürger stärker in die Entscheidungsfindung einbeziehen. Ein fakultatives Referendum, mit dem bereits beschlossene Gesetze von der Bevölkerung wieder gekippt werden können, lehnt die SPD dagegen ab. Wir setzen darauf, die Bürgerinnen und Bürger vor dem Beschluss von Gesetzen zu beteiligen, sie um ihre Meinung und auch ihre Expertise zu bitten. Ich selbst habe sehr gute Erfahrungen mit Werkstattgesprächen gemacht – zum Beispiel bei der Erstellung des Thüringer Hochschulgesetzes oder auch als Leipziger Oberbürgermeister. Erste Ansätze dafür gibt es in Thüringen bereits. Die sollten wir ausweiten. Wir sollten auch das Internet viel stärker nutzen, um Bürgerinnen und Bürger ohne Beamtensprech über unsere Vorhaben zu informieren und sie aufzufordern, ihre Meinungen in die Entscheidungsfindung einzubringen. Auch Bürgerforen und sogar ein Bürgerrat können Ansätze sein. Darüber wird in der Koalition noch diskutiert. Bereits beschlossen ist, dass wir eine Bürgerservice-Stelle bei der Staatskanzlei einrichten werden, die die Entscheidungsfindung in den einzelnen Ministerien künftig begleitet.
Könnten das auch Maßnahmen sein, den Zulauf der AfD zu reduzieren?
Das ist auf jeden Fall ein Ziel. Wir glauben, dass nicht wenige Wählerinnen und Wähler von der AfD zurückgewonnen werden können, wenn wir die Bürgerschaft stärker einbeziehen. Leider fehlt es oftmals am Dialog. Deshalb rufe ich auch die Mitglieder der SPD auf, noch mehr rauszugehen in die Vereine, in die Betriebe, an die Haustüren. Wir müssen den Graben, der sich zwischen Politik und Bürgerschaft aufgetan hat, wieder zuschütten.
Am 24. Januar stimmt ein SPD-Parteitag über den Vertrag ab, bei den Grünen am 25. Januar. Die Linkspartei lässt die Mitglieder entscheiden. Denken Sie, alle drei Partner werden zustimmen?
Da bin ich sehr zuversichtlich. Wir sind gerade in die Gespräche über die Ressortverteilung gestartet, die sich nicht ganz leicht gestalten. Bei gutem Willen von allen drei Partnern sollte eine Fortsetzung von Rot-Rot-Grün in Thüringen aber möglich sein.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.