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Stephan Weil: „Jetzt wäre der falscheste Zeitpunkt, die Kontaktverbote aufzuheben.“

Kurz vor Ostern nimmt die öffentliche Debatte über ein Ende der Corona-Einschränkungen Fahrt auf. Aus Sicht von Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil sendet das ein falsches Signal. „Lockerungen werden nur stufenweise stattfinden können“, sagt er im Interview.
von Kai Doering · 6. April 2020
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil hofft auf Impfstoff für Kinder und Jugendliche.
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil hofft auf Impfstoff für Kinder und Jugendliche.

Haben Sie eine vergleichbare Situation wie jetzt in der Corona-Krise in Ihrer Zeit als Politiker schon einmal erlebt?

Seit ich in Verantwortung stehe, habe ich schon manche Krisen erlebt, Dieselgate zum Beispiel, die Zuwanderung im Herbst 2015 oder die Weltfinanzkrise, aber nichts von alledem ist vergleichbar mit Corona.

Gemessen an der Einwohnerzahl verzeichnet Niedersachsen bisher verhältnismäßig wenige Corona-Fälle. Wie ist das Land auf einen Anstieg der Infektionen vorbereitet?

Wir setzen darauf, dass die harten Maßnahmen zur Reduzierung von direkten persönlichen Kontakten wirken. Im Moment ist eine leichte positive Entwicklung spürbar, aber das reicht bei weitem noch nicht aus. Die größten Sorgen mache ich mir um einzelne Gruppen wie Kranke und Ältere. Menschen in Pflegeheimen sind besonders stark gefährdet. Klar ist: Unsere Krankenhäuser stehen vor einer großen Bewährungsprobe, denn viele Infizierte werden erst nach und nach dort ankommen. In Niedersachsen haben wir deshalb alle Rehakliniken umfunktioniert, sodass sie als Reserve zur Verfügung stehen. Und wir bauen Behelfskrankenhäuser auf, damit die gut ausgestatteten Kliniken den besonders schweren Corona-Fällen zur Verfügung stehen.

Bei Volkswagen stehen seit fast zwei Wochen die Bänder still. Was bedeutet die Corona-Krise wirtschaftlich für Niedersachsen?

Meine Hauptsorge gilt in diesem Fall weniger Volkswagen selbst als den vielen kleinen und mittelgroßen Zulieferbetrieben. Volkswagen als großes internationales Unternehmen ist hoffentlich in der Lage, diese Zeit durchzustehen. Während etwa in China die Bänder wegen Corona still standen, sind sie in Deutschland noch gelaufen. Nun ist es umgekehrt, aber ich hoffe natürlich, dass auch in Wolfsburg die Produktion bald wieder anlaufen kann. Kleine Zulieferer  dagegen verfügen oft nicht über eine finanzielle Decke, die ihnen ermöglichen würde, einen  Stillstand lange auszuhalten. Hinzu kommt, dass die Automobilindustrie ja ohnehin mitten in einem harten Strukturwandel steht und die Corona-Krise kommt nun mit voller Wucht dazu. Den aktuellen Zustand können viele Unternehmen nicht lange aushalten.

Am Mittwoch haben die Ministerpräsident*innen und die Bundeskanzlerin vereinbart, die bestehende Kontaktsperre bis vorerst zum 19. April zu verlängern. Waren Sie und Ihre Kollegen sich da einig?

Ja, an der Notwendigkeit dieser Maßnahme hatte niemand einen Zweifel. In Niedersachsen hatten wir unsere Regelungen von Anfang an auf den 19. April ausgerichtet, andere Länder haben nun nachgezogen. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir immer noch ansteigende Infektionszahlen haben. Deshalb wäre jetzt der falscheste Zeitpunkt, die bestehenden Kontaktverbote aufzuheben.

Wie lange kann eine derart drastische Einschränkung von Grundrechten aufrechterhalten werden?

In der Tat, wir erleben gerade harte Grundrechteingriffe in fast allen Bereichen. Deshalb müssen wir als Politik unsere Entscheidungen auch gut begründen und besonders rechtfertigen. Als Jurist bin ich mir dieser Problematik sehr bewusst. Wir ergreifen diese drastischen Maßnahmen, um tausende Leben zu retten, wir dürfen sie aber nicht länger aufrechterhalten, als es wirklich notwendig ist. Und wir müssen immer wieder hinterfragen, ob die getroffenen Maßnahmen noch verhältnismäßig sind. Im Moment beantwortet sich diese Frage aus meiner Sicht sehr eindeutig. Sobald die Infektionszahlen deutlich sinken, müssen wir neu entscheiden.

Manche Politiker fordern trotzdem bereits eine Exit-Strategie, um Schritt für Schritt wieder Normalität zu erreichen. Wie bewerten Sie das?

Wenn wir jetzt eine intensive öffentliche Debatte über ein Ende der Einschränkungen führen würden, würde das ein falsches Signal aussenden. Wir sollten stattdessen immer wieder betonen, wie wichtig es im Kampf gegen Corona ist, dass persönliche Kontakte jetzt so stark wie möglich reduziert werden. Würden die politisch Verantwortlichen in Deutschland statt dessen nur noch über Lockerungen sprechen, müssten viele  Bürgerinnen und Bürger den Eindruck gewinnen, wir hätten das Schlimmste bereits hinter uns und könnten zum normalen Leben zurückkehren. Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt aber ein gefährlicher Trugschluss. Je konsequenter wir uns jetzt an die Einschränkungen halten, desto größer ist die Chance, auf absehbare Zeit wieder normalere Verhältnisse zu bekommen.

Wann rechnen Sie damit?

Das lässt sich jetzt noch nicht vorhersagen. Und niemand sollte davon ausgehen, dass es eine Rückkehr zur Normalität von einem Tag zum anderen möglich sein wird. Lockerungen werden nur stufenweise stattfinden können. Und manche dringende Empfehlungen, etwa was die Hygiene angeht, werden uns noch sehr lange Zeit begleiten.

Einzelne Städte haben inzwischen eine Mundschutzpflicht für den öffentlichen Bereich eingeführt. Halten Sie die auch für das gesamte Land für sinnvoll?

Wir müssen klar unterscheiden zwischen einem einfachen Mundschutz und medizinischen Atemschutzmasken, was in der öffentlichen Debatte häufig nicht geschieht. Wirksame Atemschutzmasken sind zurzeit weltweit echte Mangelware. Deshalb müssen diejenigen, die wir jetzt bekommen, den besonders betroffenen Berufsgruppen zur Verfügung stehen. Was den einfachen Mundschutz angeht, kann es ein gutes Zeichen der Achtsamkeit und Rücksichtnahme sein, wenn man ihn in der Öffentlichkeit trägt. Deshalb würde ich auch niemandem davon abraten. Allerdings sollte sich auch niemand zu viel davon versprechen. Ein Mundschutz hält zwar eigene Krankheitserreger zurück, schützt den Träger aber nicht wirksam vor den Viren anderer. Deshalb bleiben Abstandsregeln der beste Schutz gegen Corona.

In der Corona-Krise wird immer wieder Kritik am Föderalismus laut. Braucht es in Katastrophenfällen wie diesem mehr Zentralismus?

Nein, das glaube ich nicht. Derzeit spricht nichts dafür, dass zentralistische Staaten diese Krise besser beherrschen als ein föderales System wie wir es in Deutschland haben. Allerdings ist Föderalismus auch kein Selbstzweck. Als Länder sollten wir deshalb immer wieder untereinander und mit dem Bund die Abstimmung suchen und uns um gemeinsame Lösungen und gleichlautende Regelungen bemühen. Es war schon ärgerlich, dass in den vergangenen Wochen ab und an einzelne Länder vorgeprescht sind und damit eine wilde öffentliche Debatte über den richtigen Umgang mit dem Corona-Virus ausgelöst haben. Das hat sich inzwischen aber beruhigt. Wir haben überall in Deutschland dasselbe Schutzniveau und der Föderalismus zeigt, dass er ein sehr leistungsfähiges System ist.

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Autor*in
Kai Doering
Kai Doering

ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.

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