SPD-Außenpolitik: „Von Deutschland wird zurecht Führung erwartet.“
Seit knapp einem Jahr bestimmt der Begriff der „Zeitenwende“ die Debatten in Deutschland. Wie nachhaltig hat das die Außen- und Sicherheitspolitik der SPD verändert?
Bundeskanzler Olaf Scholz hat den Begriff der Zeitenwende zu Recht geprägt. Denn Wladimir Putin hat mit seinem verbrecherischen Angriffskrieg auf die Ukraine die Parameter der internationalen Politik fundamental verändert. Russlands Angriffskrieg und die dahinterstehende imperialistische Ideologie sind eine existenzielle Bedrohung für die Ukraine. Deshalb stehen wir fest an der Seite der Ukrainerinnen und Ukrainer. Russlands Aggression bedeutet gleichzeitig, dass wir umso entschiedener für unsere Werte einstehen müssen.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Welt zunehmend in eine Vielzahl von Machtzentren zerfällt. Unsere große Herausforderung ist, in einer solch multipolaren Welt Europas Souveränität zu stärken und mit Drittstaaten, vor allem jenen des Globalen Südens, belastbare Partnerschaften zu schließen. Das gilt insbesondere für Klimaschutz und die Energiesicherheit. Die Grundpfeiler sozialdemokratischer internationaler Politik bleiben dabei umso aktueller: Frieden, Freiheit, internationale Gerechtigkeit, Solidarität und eine starke EU sind und bleiben die Leitlinien unserer Politik.
Im Positionspapier, das die Bundestagsfraktion bei ihrer Klausur Anfang Januar beschlossen hat, heißt es, Deutschland müsse künftig „mehr Verantwortung für Frieden und Stabilität auf dem europäischen Kontinent“ übernehmen. Ist das die „Führungsmacht“, die Lars Klingbeil im vergangenen Jahr gefordert hat?
Die Sozialdemokratie ist seit jeher die politische Kraft, die versucht, auf Veränderungen nicht nur zu reagieren, sondern diese zu gestalten. Das ist in dieser Zeitenwende nicht anders. Putin wendet sich mit seinem Krieg gegen die Ukraine auch gegen unser europäisches Modell des Zusammenlebens. Die Antwort hierauf kann nur mehr Europa sein. Und von Deutschland als größtem EU-Land wird zurecht Führung im Sinne Europas erwartet. Diese Verantwortung müssen und wollen wir annehmen. Dass der Europäische Rat dem Kanzler in seiner Absichtserklärung folgt, die Ukraine in die EU aufzunehmen, ist Führung. Dass Olaf Scholz China in der Frage der nuklearen Bedrohung in Verantwortung nimmt, ist Führung. Kluge Führung ohne vorzupreschen.
Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine wird in dem Papier die Rolle der Diplomatie betont. Ist eine diplomatische Lösung mit Russland überhaupt möglich?
Wir unterstützen die Ukraine militärisch, humanitär und diplomatisch, wo möglich. Unser Ziel muss sein, dass Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine stoppt. Um das zu erreichen, braucht es militärische Stärke gegenüber Russland und im richtigen Moment auch Diplomatie. Natürlich immer nach dem Prinzip: nicht ohne die Ukraine, nicht über die Ukraine hinweg. Für die Aufnahme von vertrauensvollen Verhandlungen mit Russland gibt es derzeit keine Grundlage. Gleichzeitig müssen wir im Gespräch bleiben, um in kleinen Teilbereichen Leid zu lindern. Ich denke konkret an das von den Vereinten Nationen vermittelte Getreideabkommen und die wichtige Rolle der Internationalen Atomenergiebehörde bei der Sicherung von Energieinfrastruktur in der Ukraine.
Welche Erwartungen haben Sie hier an den neuen Verteidigungsminister Boris Pistorius?
Ich denke, Boris Pistorius ist sich der Herausforderungen seines neuen Amtes bewusst. Er wird parteiübergeifend für seinen Sachverstand in der Sicherheitspolitik und seine Führungsstärke geschätzt. Die Soldatinnen und Soldaten und alle, die täglich für unsere Sicherheit arbeiten, sind bei ihm in den besten Händen. Er wird mit Kräften dafür sorgen, dass die Bundeswehr einsatzbereit und gut ausgestattet ist, damit sie ihre Verpflichtungen gemeinsam mit unseren Partnern erfüllen kann. Das Sondervermögen für die Bundeswehr bildet die Grundlage und muss jetzt in Ausrüstung, Fähigkeiten und Strukturen fließen.
In den kommenden Wochen will die Bundesregierung ihre „Nationale Sicherheitsstrategie“ vorstellen. Worauf kommt es dabei aus Sicht der SPD-Bundestagsfraktion an?
Als wir im Koalitionsvertrag beschlossen haben, erstmals eine umfassende Nationale Sicherheitsstrategie zu verfassen, war die Welt noch eine andere. Es ist wichtig, dass wir in der Strategie eine ehrliche Standortbestimmung unseres aktuellen sicherheitspolitischen Umfeldes vornehmen. Daraus sollte ein umfassender Sicherheitsbegriff erwachsen und konkrete Handlungsfelder benannt werden, in denen wir unsere Strukturen an die neuen Gegebenheiten anpassen. Sicherheit kann nicht nur aus militärischer Perspektive betrachtet werden. Für uns bedeutet Sicherheit auch soziale Fragen in den Vordergrund zu stellen, um die Gesellschaft und die internationale Ordnung zu stabilisieren. Soziale Sicherheit und internationale Sicherheit sind für uns untrennbar, das muss sich auch in der Strategie widerspiegeln.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
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Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.