Spaltung der Gesellschaft: Solidarität statt Vereinzelung
Ute Grabowsky/photothek.net
Die Frau ist wütend. Unruhig rutscht sie auf ihrem Stuhl herum und zischt wiederholt empört in Richtung Podium. Dort erklärt Welf Schröter vom „Forum Soziale Technikgestaltung“ des DGB eigentlich gerade, warum Sozialdemokratie und Gewerkschaften wieder linker, frecher, grundsätzlicher denken und diskutieren müssen. Als Schröter gerade auf die „uneingelösten Tagträume“ der 60er und 70er Jahre zu sprechen kommt, bricht es aus ihr heraus: „Ich verstehe überhaupt nicht, wie jemand in der SPD so etwas nach Hartz IV noch sagen kann“, schreit sie. Dass der sichtlich verdutzte altlinke Gewerkschafter Schröter gar kein SPD-Mitglied ist – geschenkt.
Die Wortmeldung der Teilnehmerin auf der Tagung „Neue Perspektiven für die Einwanderungsgesellschaft “, veranstaltet von der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem DGB, mag nicht statistisch repräsentativ sein. Eine treffende Bebilderung der Mischung aus Wut und Ohnmacht in Teilen der gespaltenen Bevölkerung, wie sie von den Diskutanten auf dem Podium wortreich beschrieben wird, ist sie dennoch. Und sie zeigt, dass sich diese Wut auch gegen die Parteien und Organisationen richtet, die eigentlich beanspruchen, diese Menschen zu vertreten. Ein älterer Herr mit Migrationshintergrund aus dem Publikum erinnert aufgebracht daran, dass Thilo Sarrazin immer noch SPD-Mitglied ist. Ein Parteiausschlussverfahren gegen den ehemaligen Berliner Finanzsenator wegen dessen rassistischer Thesen zu Einwanderern und Muslimen scheiterte im Jahr 2011.
Neoliberales Konkurrenzdenken: "Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt"
„Es sieht nicht gut aus“ mit dem Zusammenhalt in der Gesellschaft, lautet auch die düstere Bestandsaufnahme des Politikwissenschaftlers Hans-Gerd Jaschke. Die „Individualisierung“ genannte Auflösung von gesellschaftlichen und familiären Milieus gehe mit neoliberalem Konkurrenzdenken einher. Im Klartext: Es gebe immer mehr Einzelkämpfer. Das produziere viele Verlierer und „Desintegrierte“ sagt Jaschke, „Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt“ sei das. Vor allem der Betrieb als Ort für sozialen Austausch verliere durch die Zunahme von Selbstständigkeit und Digitalisierung immer mehr an Bedeutung, beklagt der Forscher. Seine Forderung an die Gewerkschaften: Sich der Gruppe der Selbstständigen mehr öffnen. Zustimmendes Nicken in der Runde.
Auch Sigrid Heudorf nickt, die als Leiterin des Bereichs Sozialpolitik bei der Deutschen Bahn die Arbeitgeberseite in der Runde vertritt. Mehr noch, Heudorf hofft auf „eine neue Gewerkschaftsbewegung“. Arbeitgebervertreter, die auf starke Gewerkschaften hoffen? Auch auf einer DGB-Veranstaltung nicht unbedingt alltäglich, bemerkt Moderator Pitt von Bebenburg. Ein Zeichen für wachsendes Problembewusstsein in manchen Unternehmen? Es bleibt abzuwarten.
Strategien für die Digitalisierung entwickeln
Wie umgehen mit der Digitalisierung? Auch dafür hat Professor Jaschke Vorschläge: Er sei sehr skeptisch, ob das Internet ein Ort der Zusammenkunft sein könne, sagt Jaschke Stattdessen müssten „uralte“ Institutionen wie das Vereinsleben und das Ehrenamt gefördert werden. Also Modellbauverein und Freiwillige Feuerwehr gegen den Neoliberalismus? Welf Schröter widerspricht: Man müsse veraltete Vorstellungen von Begriffen wie „Arbeit“ und „Betrieb“ aufgeben, es brauche „Trefforte für die digitale Zielgruppe“. „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht zehn Jahre unseren eigenen Diskussionen hinterherlaufen“, warnt der Gewerkschafter.
Karamba Diaby: Sozialdemokratie muss handeln
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Karamba Diaby widerspricht seinen Mitdiskutanten nicht: Die Spaltungstendenzen in der Gesellschaft verstärkten sich, sagt Diaby, laut Studien seien zwei Drittel der AfD-Wähler Modernisierungsverlierer. Gleichzeitig gebe es „hunderttausende“ Flüchtlinge, deren Bildungs- und Berufsabschlüsse aus ihren Heimatländern immer noch nicht anerkannt seien. Scharf kritisiert er auch die aktuelle Praxis der Trennung von Flüchtlingen nach Bleibeperspektive: Das erschwere eine gelungene Integration enorm. Dort bestehe ebenso Handlungsbedarf wie bei der wachsenden Vermögensungleichheit und der politischen Radikalisierung im Land. Bei letzterer setzt Diaby nicht auf den Dialog mit AfD-Wählern – Argumente würden ohnehin nicht ziehen, es brauche Taten statt Worte.
Daher wird Diaby auch mal konkret und bringt das ‘Chancenkonto“ wieder ins Spiel. Das Konzept, mit dem die SPD im vergangenen Bundestagswahlkampf geworben hatte, soll jedem Bürger 15.000 bis 20.000 Euro für die berufliche Qualifizierung und Weiterbildung zur Verfügung stellen. Das war auch zur Abfederung der Folgen von Digitalisierung und Automatisierung gedacht. Die Reaktion in Medien und Öffentlichkeit war verhalten, das räumt auch Diaby ein. Dennoch sei das Konzept ein Beispiel dafür, wie die SPD mutiger und offensiver Politik machen kann.
ist bis zum 1. Dezember 2017 Praktikant in der Redaktion des vorwärts. Der gebürtige Hamburger studiert Politikwissenschaft im Master an der Freien Universität Berlin.