Frank Hertel hat sich nach unten begeben, also dorthin, wo wir uns nicht wirklich wohlfühlen. In die Bereiche, in die wir gesellschaftlich niemals absteigen wollen. "Wir haben Angst vor der Armut, vor Hartz IV, vor Tabak aus dem Beutel und Dosenbier." Aus diesem Grund strengen wir uns an, unseren privilegierten Status zu halten. Die Angst sei unser Antrieb - nicht der Spaß, nicht der Genuss, nicht der Wille zum besseren Leben, so Hertel.
"Es ist die Dummheit"
Frank Hertel ist studierter Soziologe. Doch er wagte den Selbstversuch und verdingte sich für einen "Ausbeuterlohn" in der Produktion einer Großbäckerei. In seinem Buch "Knochenarbeit. Ein Frontbericht aus der Wohlstandsgesellschaft" schildert er eindrucksvoll, wie es Menschen geht, die "einfache Arbeiten" verrichten. Doch für diese Arbeiter interessiert sich niemand. Dabei seien doch genau diese Menschen das Fundament, auf dem sich diese Gesellschaft aufbaue, sagt Hertel.
Woran das liegt, dass Menschen sich freiwillig harte, schlecht bezahlte Arbeit antun, hat Frank Hertel erkannt: Es ist die Dummheit. "In meiner Fabrik herrscht die Dummheit." Sie werde "unterstützt von der Faulheit, dem Wahnsinn, der Krankheit und der Unordnung." Fertig ist das perfekte Exemplar eines Menschen, der sich tagtäglich ausbeuten lässt.
Gerade diese Dummheit mache es unmöglich, dass aus den Fabriken jemals eine Revolution kommen wird. Denn keiner wisse dort überhaupt, was eine Revolution ist, geschweige denn wie dieses Wort korrekt geschrieben wird. Hertel provokant: "Es ist die Dummheit der Arbeiter, die Karl Marx nicht bedacht hat." Wie sonst sei zu erklären, dass ein Mann über Jahrzehnte mit 1200 Euro netto nach Hause gehe, ohne sich darüber zu beklagen, fragt er.
Kaum eine Chance zu entkommen
Der Weg raus aus der Misere ist steinig, der Aufstieg für den "kleinen" Mann nur schwer zu bewältigen. Den Menschen wird bewusst Angst eingejagt, denn dann sind " folgsamer, sie lassen sich mehr bieten." Hertel rät deshalb: "Wir sollten den Märchenonkeln nicht mehr glauben. Die Oberen erzählen uns tolle Geschichten, die alle falsch sind."
Um der Misere aus Armut, Hartz IV oder der Alternative eines geringfügig bezahlten Jobs zu entkommen, empfiehlt Hertel eine ungewöhnliche Art der Rückkehr ins Arbeitsleben: Die Verdingung im Straßenhandel, in Form von dauerhaften Märkten an belebten Plätzen. In anderen Ländern, wie der Türkei, funktioniere dieses System schließlich auch mehr als erfolgreich. Es bietet Perspektiven für Menschen, die sich seit Jahren vergessen fühlen.
Seine Begründung: "Der Staat kann nicht mehrere Millionen Menschen fürs Nichtstun bezahlen. Das wird auf Dauer zu teuer." Mit dem Straßenhandel "kann er (der Staat, Anm.) auch nichts mehr vorschreiben. Dann wird die Freiheit die kleinen Leute erreichen." Abraham Lincoln meint jedenfalls: "Wer anderen die Freiheit vorenthält, hat sie selber nicht verdient."
Den Armen Gehör verschaffen
Bewusste Provokation könnte man Frank Hertel unterstellen, wenn man nur Auszüge aus seinem Buch Knochenarbeit lesen würde. Das mag in Teilen auch richtig sein, geht jedoch an der eigentlichen Zielsetzung des Autors vorbei. Ihm geht es um Aufklärung, um Aufklärung über jene Probleme, mit denen viele Menschen tagtäglich zu kämpfen haben. Und das betrifft eben vor allem Menschen, die nur wenig bis gar kein Geld zum Leben haben. Um wahrgenommen zu werden, braucht es eben einen Lautsprecher, der deren Anliegen überspitzt und provokant Gehör verschafft. Das hat Hertel mit "Knochenarbeit" erreicht.
Frank Hertel: "Knochenarbeit. Ein Frontbericht aus der Wohlstandsgesellschaft", Hanser Verlag, 2010, 208 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-446-23579-3