Entzündet hatte sich die Reform- und Gerechtigkeitsdebatte innerhalb der SPD an der längeren Auszahlungsdauer des Arbeitslosengeldes an Ältere. Das, was die SPD in den vergangenen drei Tagen
vorerst hinter sich gebracht hat, steht der Union noch bevor. Genügend Gesprächs- und Konfliktpotential also, um auch bei den bevorstehenden Koalitionsgesprächen im November angeregt und
aufgeregt zu debattieren. Es wird aber nicht nur um Sachfragen gestritten werden. Denn, die kommenden Wahlen fest im Blick, wird es auch um das "Copyright" an der Idee gehen.
Der Begriff der Gerechtigkeit - ein theoretisch wie empirisch vermintes Gelände
Gerechtigkeit ist ein Leitbegriff der Politik und beide Volksparteien zählen sie seit langem - gleichermaßen - zum Kanon ihrer programmatischen Grundwerte.
Man erinnere sich: "Agenda 2010 - Deutschland bewegt sich", "Fördern und Fordern, statt kürzen", "Sozial ist, was Arbeit schafft", "Arbeit für alle, Chancen für alle". Hinter diesen
griffigen Formeln verbergen sich jedoch unterschiedliche Begriffsbestimmungen und Strategien einer Gerechtigkeitspolitik zur Lösung struktureller Probleme des Arbeitsmarktes, der sozialen
Sicherung, der Besteuerung und der öffentlichen Haushalte. Die Debatten und Politikempfehlungen werden dadurch unübersichtlich, missverständlich und bisweilen sogar widersprüchlich.
Eine beunruhigende "Diagnose"
Wer heute Gerechtigkeit fordert, steht oftmals unter dem Verdacht, lediglich für sich und seine Klientel mehr zu fordern. Angesichts neuer Ansprüche nach Kompensation nahm die
Gerechtigkeitspolitik in der Vergangenheit allzu oft Zuflucht bei neuen Angeboten der Umverteilung. Eine rasche, sofort wirksame Befriedigung von Interesse schien dadurch möglich.
Die gegenwärtige Lage erfordert die Rekonstruktion von Vertrauen
Die Auseinandersetzungen um die Grundlagen der marktwirtschaftlichen Ordnung und ihrer programmatischen Konsequenzen kreisen im Kern um eine Frage: Wie soll die Verantwortung zwischen dem
Individuum und dem Staat angemessen aufgeteilt werden? Wenn vom Bürger gefordert wird, sich mehr zu engagieren und eine auf das Gemeinwohl bezogene Problemlösungsperspektive einzunehmen, muss die
Politik eine stärkere Orientierungsleistung für den Bürger erbringen. Dies gilt insbesondere für eine nachhaltige Gerechtigkeitspolitik. Denn: Wer wartet schon freiwillig Jahre, bis sich die
Effekte einer Gerechtigkeitspolitik bemerkbar machen?
Erst wenn dies gelingt, werden Fortschritte der Gerechtigkeit, die sich nicht nur auf die Verteilung von materiellen Ressourcen beschränkt, wieder möglich.
Es darf mit Spannung der Ausgang der bevorstehen Koalitionsverhandlungen erwartet werden. Es wird sich zeigen, ob die Gerechtigkeitspolitik in den zwei großen Volksparteien eine Zukunft hat
oder diese den Protestbewegungen von rechts und links gehört.
Thomas Bibisidis ist Politikwissenschaftler und Doktorand am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen in Köln, freier Autor und freier Dozent für politische
Bildung.
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