Sorgearbeit – Wer kümmert sich um die Kümmerer?
Fern ab vom Schuss wird an dem kleinen runden Tisch im Vorraum mit den unzähligen Spielsachen darauf ein Kind von einer Frau betreut, was der Bundesfamilienministerin beim Verlassen des Auditoriums auf dem Sprung von einer Debatte über die komplexe sowie vielfältige Pflegearbeit zur nächsten Abendveranstaltung im streng gestrickten Terminkalender unmittelbar ins Auge springt: „Das ist Care-Arbeit!“, sagt sie. Gemeint ist damit eine Tätigkeit des Pflegens und Sich-Kümmerns.
Pflegenotstand und Berufsaus
Auftakt der Panel-Diskussion im bUm, dem Raum für engagierte Zivilgesellschaft, ist ein von der Moderatorin und Co-Geschäftsführerin der Hertie-Stiftung Elisabeth Niejahr angerissener Lageüberblick: 75 % der Pflegebedürftigen würden von Angehörigen gepflegt. „Diesen Zustand wollen wir auch erhalten.“, so Irene Vorholz, Beigeordnete für Soziales und Arbeit des Deutschen Landkreistags. Nicht nur Elisabeth Niejahr schaute nach diesem Statement verdutzt von ihren Notizkarten auf, ein Raunen über diese konservativ anmutende Aussage ging durch den Saal.
Wolfgang Schroeder, Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats des Progressiven Zentrums, warf in der Panel-Diskussion daraufhin den Begriff der Zeitpolitik – das Formen des Staats an der zeitlichen Struktur der Gesellschaft – mit Verweis auf die Arbeitszeitbedingungen in den Raum. „Sie ist ein entscheidender Schlüssel, um einer gendergerechte Care-Arbeit möglich zu machen.“ Stärkere Selbstbestimmung in der Arbeitszeit sei gefordert, denn zwischen Kindererziehung und Pflege der älteren Angehörigen befänden sich Familien, insbesondere Alleinerziehende, in einer Sandwichposition. Mit seinen Worten unterstrich Schroeder mehrmals die Forderung einer Wandlung weg vom konservativen hin zum serviceorientierten Sozialstaat. Jener könne aber nicht ohne die Zusammenarbeit von Politik, Verbänden sowie Haupt- und Ehrenamt gelingen.
Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Dass mit den Jahren die Erwartungen an die Versorgung schneller als die an das Versorgungssystem gewachsen wären, breiten die Thesen des Papiers zum #CareKompass, herausgegeben von dem Roten Kreuz und dem Progressiven Zentrum, aus. Ein System des organisierten Misstrauens führe zu einem übermäßig betriebenen Aufwand in Dokumentation und Bürokratie – so die Kritik. Es herrsche ein enormer Leistungs- und Erwartungsdruck, der dank des Narratives einer Pflege- und Betreuungskrise, des Fachkräftemangels und einem Pflegenotstand nur befeuert würde. „Die Care-Landschaft benötigt dringend eine andere Erzählung.“, so die klare Handlungsempfehlung für eine zukünftige Gestaltung der Care-Arbeit im Thesenpapier. Die Aufwertung sozialer Berufe sei laut Giffey eine gleichstellungspolitische Frage.
In der Veranstaltungsreihe #CareKompass stellte man sich der zukunftsentscheidenden Frage nach dem Strukturwandel der Pflege- und Betreuungsarbeit. Wie es im Thesenpapier heißt, bliebe die öffentliche Wahrnehmung und Anerkennung des täglichen Erbringens einer unverzichtbaren Care-Leistung hinter ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zurück. Darauf bauend heißt es: „Während in anderen Branchen fehlende Fachkräfte lediglich die Produktivität betroffener Unternehmen beeinträchtigen, entsteht im Bereich der Pflege ein drängendes sozialpolitisches Versorgungsproblem.“ Lücken in der Pflege müssten mit familiärer Sorgearbeit ausgefüllt werden.
Wir kümmern uns um die Kümmerer!
Der Weg in die Teilzeit Arbeit gründend auf einem Weiterarbeiten in der unbezahlten häuslichen Pflege würde, so Giffey, aus Sorge um die Familie vor allem von Frauen begangen. „Zu einer drastischen Situation kommt es, wenn ein Austritt aus dem Beruf unvermeidbar wird.“ Etwas für die Menschen zu tun, die für andere sorgen, während sie arbeiten gehen – das liegt der Familienministerin am Herzen.
studiert Deutsche Literatur und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und ist Praktikantin beim vorwärts.