Skepsis bei Minderheitsregierung: Es fehlen positive Beispiele
Thomas Trutschel/photothek.net
Herr Pfafferott, Minderheitsregierungen gehören in Ländern wie Dänemark oder Schweden zum Alltag, in Deutschland ist die Skepsis groß. Warum?
Das ist in erster Linie historisch begründet. Die politische Instabilität der Weimarer Republik wird heute mit den damaligen Minderheitsregierungen assoziiert. Übersehen wird dabei, dass es erstens nicht allein die Minderheitsregierungen waren, die zu der Instabilität geführt haben. Zweitens hat das Grundgesetz Lehren aus Weimar gezogen, etwa die Regierung gegenüber dem Präsidenten gestärkt. Die politische Gesamtkonstellation ist natürlich auch eine vollkommen andere, die Demokratie gefestigter. So trivial es klingt: Es müssten einfach einmal Erfahrungen mit der Regierungsform gemacht werden. Positive Beispiele könnten die Skepsis senken.
Auf Landesebene gab es bereits Minderheitsregierungen, beispielsweise in Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen. Wie sind die Erfahrungen dort?
Überall dort, wo es Minderheitsregierungen gab, wurden die Länder ordentlich regiert. Die positiven Erfahrungen aus der Zeit überwiegen bei weitem, Blockaden konnten gelöst werden. Der breiten Öffentlichkeit sind diese Beispiele aber zu wenig präsent, um den Schrecken vor der Minderheitsregierung zu verlieren.
Grundsätzlich: Wo liegen die Vorteile einer Minderheitsregierung?
In einer tolerierten Minderheitsregierung entstehen wechselnde Mehrheiten. Die Suche nach Partnern wird offener, es sind nicht zwangsweise immer die gleichen Koalitionen im Parlament, die sich bilden müssen. Die Folge sind sehr viel mehr Flexibilität und Inklusivität in der Gesetzgebung. In Situationen, wie wir sie aktuell erleben, können Minderheitsregierungen kreative Auswege aus Blockadesituationen stellen. Parteien können Verantwortung übernehmen, ohne selbst zu regieren.
Und die Risiken?
Tatsächlich läuft eine tolerierte Minderheitsregierung Gefahr, für einzelne Abstimmungen keine Mehrheit zu finden. Bei einfachen Gesetzen ist das weniger dramatisch als dann, wenn es beispielsweise um den Haushalt geht. Kann dieser nicht verabschiedet werden, ist die Regierung de facto handlungsunfähig. Das ist ein Problem.
Für wie wahrscheinlich halten Sie eine Minderheitsregierung mit Unterstützung der SPD?
Für die SPD wäre eine Minderheitsregierung in einer kurzfristigen Variante eine attraktive Option. Sie gewänne Zeit für die eigene Neuaufstellung, könnte eine Große Koalition vermeiden und müsste auch nicht direkt in einen neuen Wahlkampf ziehen.
Was heißt kurzfristig?
Meiner Ansicht nach sollte diese Phase nicht länger als ein Jahr andauern. Große Parteien wie die SPD haben den Anspruch, die Regierung zu stellen und Regierungshandeln zu verantworten. Das Problem ist: Weil Rot-rot-grün oder eine Ampel noch nicht einmal eine relative Mehrheit haben, wären in der jetzigen Konstellation keine Mehrheit gegen die Union möglich. Wenn die SPD regelmäßig Gesetze mit der Union verabschieden würde, stellt sich schon irgendwann die Frage, wieso man mit ihr Kompromisse, aber keine Koalition eingeht. Langfristig bestünde die Gefahr einer informellen Großen Koalition ohne einen einzigen SPD-Minister. Das kann die Partei nicht dauerhaft wollen.
Müssen sich Parteien darauf einstellen, künftig häufiger die Bildung von Minderheitsregierungen in Betracht zu ziehen?
Es hat sich abgezeichnet, dass die Bildung von Mehrheitsregierungen in einem Sechs-Parteien-System immer schwieriger wird. Das ist sicher eine neue Normalität, an die wir uns gewöhnen müssen.
Martin Pfafferott ist Politikwissenschaftler und hat gerade seine Promotion zu Entstehungs- und Handlungsbedingungen von Minderheitsregierungen abgeschlossen. Er ist Referent im Landesbüro NRW der Friedrich-Ebert-Stiftung.