Sigmar Gabriel: „Wir stehen zu unserer Form des Zusammenlebens“
Maurice Weiss / Ostkreuz / BMWI
Sind die Attentate von Paris Europas 11. September?
Sie sind der schreckliche Beweis dafür, dass der IS seinen Krieg nach Europa tragen will. Wir sind tief betroffen von diesem sinnlosen Morden in Paris. Klar ist: Der Terror des IS ist nicht nur gegen die Menschen in Paris gerichtet, sondern gegen unsere Werte und unsere Freiheit. Und deswegen können dieser Terror und diese Gewalt jeden treffen, der für unsere Art zu leben eintritt. Unsere gemeinsame Aufgabe ist es, diese Werte zu verteidigen.
„Durch Paris darf sich nichts an unserem Zusammenleben ändern“, haben Sie nun als Reaktion auf die Anschläge gefordert. Ist das realistisch?
Ja! Ich fand nach dem Anschlag den Satz – Nach Paris ist alles anders – den falschesten Satz, den man aussprechen konnte. Ich finde, nach Paris darf nichts anders sein. Nach Paris dürfen wir die Weltoffenheit, die Kultur und den Umgang miteinander und untereinander eben nicht verändern. Wir dürfen nicht vor Angst erstarren. Wenn nach Paris alles anders wäre, dann hätten die Terroristen ihren ersten großen Erfolg zu feiern. Wir wollen unsere Art des Zusammenlebens nicht ändern. Wir wollen nicht ändern, dass wir mit den vielfältigsten Kulturen aus allen Teilen der Welt mit den unterschiedlichsten Lebensvorstellungen friedlich zusammenleben können. Und deswegen sage ich nach Paris ausdrücklich: Jetzt erst recht! Wir werden die Idee eines freien selbstbestimmten Zusammenlebens verteidigen. Das war auch ein Grund für meine Familie und mich, eine Woche nach den Anschläge nach Paris zu reisen. Wir haben gegenüber dem französischen Präsidenten François Hollande unsere große Anteilnahme zum Ausdruck gebracht. Wir wollten zeigen, dass die Anschläge keine französische Angelegenheit sind, sondern auch uns Deutsche tief bewegen. In dieser Situation müssen wir zusammenstehen.
Der Ruf nach schärferen Sicherheitsgesetzen wurde nach Paris schnell laut. Brauchen wir die?
Wir brauchen keine neuen Sicherheitsgesetze, aber durchaus Achtsamkeit und auch ausreichend Personal, zum Beispiel bei der Polizei. Deshalb hat die SPD übrigens bereits im September 3000 zusätzliche Stellen für die Bundespolizei durchgesetzt. Und was wir sicher auch brauchen, ist eine intensivere Zusammenarbeit mit allen europäischen Nachbarn. Dazu gehört auch die Kontrolle der EU-Außengrenze. Das Problem der aktuellen Zuwanderung von Flüchtlingen ist eigentlich nicht die Zahl, sondern die Geschwindigkeit, in der die Menschen kommen, und die Unkontrolliertheit. Wir müssen es schaffen, die Geschwindigkeit der Zuwanderung zu verringern und gleichzeitig die Kontrolle darüber zurückzubekommen, wer ins Land kommt. Nicht, weil wir jeden Flüchtling in Generalverdacht nehmen, dass er ein potenzieller Terrorist ist. Im Gegenteil: Die Menschen, die zu uns kommen, flüchten ja gerade vor dem Terror. Aber natürlich kann niemand ausschließen, dass dabei auch Leute versuchen, nach Europa und nach Deutschland zu kommen, die eine Gefahr darstellen. Und es darf nicht sein, dass wir Politiker hoch geschützt sind, die Bürger aber Angst vor Attentaten haben müssen. Innere Sicherheit ist auch eine soziale Frage. Der Staat muss Sicherheit für alle garantieren und nicht nur für seine Repräsentanten. Deshalb ist innere Sicherheit auch ein wichtiges Thema für die SPD.
Wie lautet die sozialdemokratische Botschaft in diesen Tagen?
Unsere Botschaft lautet: Wir stehen zu dieser Form des Zusammenlebens und wir werden sie verteidigen. Besonnen und entschlossen. Besonnen, weil man sich besinnen muss, auf die Werte, die uns verbinden. Besinnen darauf, dass wir den Schatz einer freiheitlichen Verfassung von unseren Eltern und Großeltern geerbt haben. Und dass er nicht automatisch erhalten bleibt, sondern wir ihn immer wieder neu beleben müssen. Und entschlossen, weil wir den Terror entschlossen bekämpfen werden. Und ja, wir stehen mit unverbrüchlicher Solidarität an der Seite unserer französischen Freunde.
Ende dieses Jahres werden voraussichtlich mehr als eine Million Menschen auf der Flucht nach Deutschland gekommen sein. Was steht uns 2016 bevor?
Täglich erreichen rund 10 000 Menschen über die Türkei die griechische Küste und schlagen sich unter teils menschenunwürdigen Bedingungen über den westlichen Balkan durch. Die Menschen fliehen vor Krieg, Terror und Hunger. Wir fühlen mit ihnen und sehen uns gleichzeitig vor eine historische Bewährungsprobe gestellt. Die Helfer in Deutschland und andernorts geraten an ihre Grenzen. Viele Städte und Gemeinden haben schlicht keine Aufnahmekapazitäten mehr und eine gelungene Integration braucht eine gute Vorbereitung und vor allem Zeit.
Wie wollen Sie die Geschwindigkeit begrenzen?
Es gibt kein Wundermittel, um das zu erreichen und dieser Lage im Handumdrehen Herr zu werden. Klar ist für uns: Wir werden das Grundrecht auf Asyl nicht ändern. Aber wir müssen die EU-Außengrenze besser schützen und kontrollieren. Nicht um eine Festung Europa zu bauen, sondern um Menschen kontrolliert zu uns zu holen. Ohne Schlepper, auf sicheren Wegen und unter Kontrolle, wer kommt. Am besten Frauen und Kinder zuerst, denn Familien sollten Vorrang haben. Wir kennen das aus früheren Zeiten, denn es geht eigentlich um die Aufnahme von Kontingenten, die vom Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen vermittelt werden. Diese Kontingente können durchaus umfangreich sein. Aber die Voraussetzungen dafür sind menschenwürdige Bedingungen für Flüchtlinge in den Ländern, in denen diese Kontingente zusammengestellt werden: in der Türkei, in Jordanien und im Libanon. Dafür müssen wir endlich sorgen und auch die Finanzmittel dafür bereitstellen. Sicherung der Außengrenzen, Hilfe für die Nachbarstaaten Syriens und Aufnahme von Kontingenten: Das sind die Schritte, die wir für einen Neustart in der Flüchtlingspolitik brauchen. Und am Wichtigsten: die Beendigung des Bürgerkriegs in Syrien und der gemeinsame Kampf gegen den IS. Ich bin sehr froh darüber, dass dafür jetzt Chancen bestehen. Es ist Frank-Walter Steinmeier, der als deutscher Außenminister dafür hart gearbeitet hat.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.